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Sommerschnee

Berndt Seite

Hardcover, 124 S., 2020 erscheint demnächst; Bereits vorbestellbar

ISBN: 978-3-86397-134-2
Preis: 15,00 €

Sommerschnee – das sind die luftig-bauschigen Samenfasern der Pappelfrüchte, die sich im Sommer öffnen und die Welt mit ihrem weißen Flaum überziehen: Schnee in der wärmsten Jahreszeit. Mal melancholisch, mal mandelbitter, aber stets in größter Genauigkeit geht Berndt Seite auch in seinem neuen Lyrikband den Erscheinungsformen der Natur nach und lotet in ihnen die Bedingungen des Lebens aus.

Wetterlleuchten am Horizont der Freiheit

Wetterlleuchten am Horizont der Freiheit

Der Aufstand vom 1. August 1953 im Lager Workuta, wo auch Sachsen starben.

A. Solschenizyn in seiner Lagerkleidung etwa 1953. Foto: Wikimedia Commons gemeinfrei.
A. Solschenizyn in seiner Lagerkleidung etwa 1953. Foto: Wikimedia Commons gemeinfrei.

Ein politischer Neuanfang schien auch in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SBZ) greifbar nahe. Doch die Sorge vor einer neuen Diktatur wuchs von Tag zu Tag. Die im Schatten der sowjetischen Besatzung agierenden deutschen Kommunisten ließen keinen Zweifel an ihrem absoluten Machtanspruch. „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben", lautete Ulbrichts berühmt gewordene interne Gebrauchsanweisung.

Dazu war ihnen jedes Mittel recht. So genannte Informanten denunzierten ahnungslose Bürger, die Kritik übten, bei den sowjetischen Dienststellen. In geheimen Verhören, ohne Rechtsbeistand, wurden die Verhafteten durch methodisches Foltern zu Geständnissen gepresst, die häu?g mit „Urteilen" zu 25 Jahren Zwangsarbeit, Zuchthaus oder gar zum Tode führten. Tausende andere kamen ohne Verhör oder Urteil in ein ehemaliges KZ innerhalb der SBZ/DDR, die nun als Speziallager weiter geführt wurden. Bis 1953 verhängten sowjetische Militär-Tribunale (SMT) hohe Strafen, die mit der Deportation in das GULag-System der Sowjetunion endeten. Der spätere Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn hat dieses System in seinen Werken „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" und im „Archipel GULag" gegeißelt, entlarvt und literarisch weltweit bekannt gemacht.

Gefangene aus zahlreichen Ländern und unterschiedlicher Nationalität fanden sich in diesem Befehls- und Zwangsregime unter unwürdigsten Bedingungen zusammen. Sie sind als „Politische" mit Kälte, hohen Arbeitsnormen, unzureichender Hygiene, Krankheiten und Hunger konfrontiert.

Leipzig, Trauermarsch zur Beisetzung Stalins am 9. März 1953. Bundesarchiv, Bild 183-18688-0004 / CC-BY-SA.
Leipzig, Trauermarsch zur Beisetzung Stalins am 9. März 1953. Bundesarchiv, Bild 183-18688-0004 / CC-BY-SA.

Hunderte deutsche Staatsbürger gelangten auf diesem Wege, zwangsweise, gegen ihren ausdrücklichen Willen, entgegen dem Verfassungstext der DDR, in die Arbeitslager mit 32 Schachtanlagen in das nördlich vom Polarkreis gelegene Workuta.Sie litten unter der Schacht- und Oberflächenarbeit mit Schnee und Eis. In diesem lebensfeindlichen Gebiet mit einem neun Monate währenden Winter - bis zu 50 Grad Kälte- machte sich die mangelnde Ernährung, die unzureichende Bekleidung und die fehlende Verbindung zu den Angehörigen besonders bemerkbar. Mit dem Verlust der Menschenwürde kamen Gefühle der  Hoffnungslosigkeit auf, aber auch das unbändige Verlangen nach Freiheit.

Unter den Gefangenen war der Anteil der geistigen Berufe, darunter zahlreiche Studenten, besonders hoch. Hinzu kamen russische Intellektuelle sowie verurteilte russische Of?ziere der „Roten Armee". Bei strenger Geheimhaltung, unter den Augen des allgegenwärtigen Geheimdienstes, gelang es diesen Personen, einen Kreis zu bilden, der auf den Zusammenbruch des Sowjetsystems hoffen ließ. Diese Hoffnung wurde genährt durch die folgenden, nicht vorhersehbaren Ereignisse: 

  • Der Tod Stalins am 5. März 1953 führte zu einer kurzzeitigen instabilen Lage in der Sowjetunion

  • Der Arbeiteraufstand vom 17.Juni 1953 in der DDR ‚ der durch den bewaffneten Einsatz der „Roten Armee" niedergeschlagen wurde.

  • Die Verhaftung des „Spions" L.P. Berija im Juni 1953, der immerhin zum inneren Zirkel des allmächtigen Politbüros der KPdSU gehörte.

Zeichnung vom Lager des 29. Schachts in Workuta.
Zeichnung vom Lager des 29. Schachts in Workuta.

Nun schien die Befreiung der seit Jahren dahin vegetierenden und ausgemergelten Häftlinge in greifbare Nähe zu rücken. Die schnell gebildete Streikleitung der politischen Häftlinge des Lagers Nr. l0, Schacht 29, forderte in einer zweiseitigen Eingabe an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der UdSSR:

 1. die Freilassung aller politischen Häftlinge aus den Lagern;

2. die Möglichkeit einzuräumen, dass Ausländer in ihre Heimat zurückkehren können;

3. Garantien für die Stra?osigkeit für alle am Streik Beteiligten.

Das waren politische Forderungen, die über einen gewöhnlichen Arbeitskampf weit hinaus reichten. Die Führung in Moskau hatte das erkannt. Nach langem Zögern kam der Befehl durch Generalstaatsanwalt Roman Rudenko, den Aufstand mit Waffengewalt niederzuschlagen.

Das Streikkomitee hat die disziplinierte Arbeitsniederlegung organisiert. Es gab keinen Anlass für die Eröffnung des Feuers. Rudenko selbst war mit der Vorbereitung und Durchführung des Prozesses gegen Lawrentij Berija in Moskau beschäftigt. Nach Workuta hatte er seinen Stellvertreter, Oberjustizrat M.D. Samochin entsandt.

Horst Schüler, Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta, schildert eindrucksvoll in seinem Buch „Workuta. Erinnerungen ohne Angst" die damaligen Ereignisse. Gleiches gilt auch für die Berichte von Heini Fritsche und dem leider zu früh Verstorbenen Sigurd Binski.

„Am l. August 1953", schildert Horst Hennig den Vorgang, „stand ich 10.25 Uhr mit etlichen hundert Leidensgenossen auf der Lagerstraße, vereint im gemeinsamen Streik. Mehrere Kompanien der MWD-Truppen unter dem Kommando hoher Of?ziere aus Moskau rückten an und eröffneten überraschend das Feuer auf die dicht gedrängte Menge politischer Häftlinge verschiedener Nationen." Über ihm verblutete der lettische Pfarrer Janis Anton Mendriks. „Ich stand ziemlich vorn", schreibt Hennig weiter „in der 7. Reihe. Mein österreichischer Arbeitskamerad, der Ingenieur Karl Schmid, wurde ebenso tödlich getroffen wie zwei junge Deutsche. Nachdem die Truppen das Lager gestürmt hatten, lagen 64 Tote und 123 zum Teil Schwerverletzte auf der Lagerstraße. Ich wurde mit den anderen unverletzt gebliebenen Häftlingen aus dem Lager getrieben und schwor mir: ‚Du darfst diese Verbrechen niemals vergessen! ‘"

Wachturm im Lager Workuta.
Wachturm im Lager Workuta.

Die beiden jungen Deutschen, die bei dem Massaker starben, waren Wolfgang Jeschke (geb. 1932 in Berlin) und Hans-Gerd Kirsche (geb.l929 in Waldheim). Der verletzte Karl Schmid verblutete sinnlos wegen mangelnder medizinischer Hilfe. Ein zweiter, Heini Fritsche, hatte mehr Glück, erhielt selbstlose Hilfe durch einen jüdischen Häftling und überlebte schwer verwundet. Zu den schwer Verwundeten gehörten auch Rudi Sommer, Berlin, Bernhard Schulz, Vaihingen, der heute noch unter den Verletzungsfolgen leidet, Georg Dietrich, früher Köthen, oder Heinz Möbius, früher Mittweida. Andere überstanden, weil die Leichen ihrer Kameraden einen Schutzschild bildeten. Das geschah nicht im Krieg, sondern acht Jahre später, Monate nach Stalins Tod, in einem von vielen Strafarbeitslagern der „sozialistischen" Sowjetunion, mit Häftlingen aus zahlreichen Ländern, denen politische Straftaten vorgeworfen wurden - im Namen aller Werktätigen. Das System wirkte fort. Die Au?ösung der Lager geschah zögerlich, wohl vor allem ökonomisch bedingt, zuletzt erst drei Jahre nach dem Ende des Diktators. Eine echte Abkehr erfolgte nicht. „Stalinismus ohne Stalin", nennt das zu Recht Wladislaw Hedeler.

Am 15.0ktober l992 erfuhr Horst Hennig mit der Rehabilitation aus Moskau, wie später nahezu alle anderen politischen Häftlinge, dass auch er aus russischer Sicht unschuldig verurteilt wurde und damit „fünf Jahre, 9 Monate und 5 Tage in Workuta" unschuldig gelitten hat.

Einige Lebensläufe der politisch Verurteilten Gefangenen zeigen darüber hinaus exemplarisch auch für weitere politische Strafgefangene in Workuta, dass die jahrelange Unterdrückung, die Verletzung der elementaren Menschenrechte nicht zur Aufgabe der eigenen Selbstbestimmung führte. lm Gegenteil: unter demokratischen Bedingungen gelang trotz der verlorenen Jahre im hohen Maße die Selbstverwirklichung im beru?ichen Betätigungsfeld.

Abschließend sei an einen sowjetischen Of?zier erinnert, der zwei Jahrzehnte, ein Viertel seines
Lebens, in sowjetischen Lagern verbracht hat, unschuldig, wie die spätere Rehabilitation ergab. Im Lager l0, Schacht 29 war er Brigadier und am l. August 1953 einer der Streikführer: Boris Kudrjawzew (1923-2004), früher Oberleutnant der Roten Armee und nach der Haft Deutschlehrer in Degtjarsk. Mit dem Volksbund der Kriegsgräberfürsorge, über die deutsche Außenstelle in Moskau, gelang es Dr. Horst Hennig‚ die Angehörigen zu ermitteln und mit ihnen in Verbindung zu treten. In den hinterlassenen autobiogra?schen Aufzeichnungen von Kudrjawzew, die noch nicht veröffentlicht sind, heißt es

„1. August 1953 - Möge dieser Tag denjenigen, die den Befehl gegeben haben, auf uns zu
schießen, und denjenigen, die diesen verbrecherischen Befehl ausgeführt haben, zur Schande gereichen/ Ehre und Ruhm denjenigen, die sich geweigert haben, ihre Väter und Brüder zu töten."

Die historische Dimension dieses Aufstandes, der als Generalstreik angelegt war, ist noch nicht festgestellt. Wenn die Geschichte Osteuropas neu geschrieben wird, wie es Stefan Karner vorschlägt, dann gehört er in eine Reihe mit den Arbeiteraufständen vom l7. Juni 1953 in der DDR, dem in Posen (Polen) von 1956 und mit dem Volksaufstand in Ungarn Vom gleichen Jahr. All das sind frühe Kettenglieder auf dem Weg zur Überwindung des sowjetisch geprägten Kommunismus.

Der Bertuch Verlag dankt  der Zeitschrift "Freiheit und Recht",  Herrn Jürgen Maruhn, den Artikel aus dem aus Heft Juni 2013/1  übernehmen zu dürfen, verbunden mit dem Recht, die Bilder zum Lager Workuta zu nutzen. 

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