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Hans Lucke

Das Täubchen, dass den Igel küssen wollte

Geschichten für große und kleine Menschenkinder

Ein Marienkäfer auf der Suche nach seinem siebten Punkt, eine Ameise, die lieber ein Hund sein will, eine fernsehsüchtige Amsel und eine Hexe in der Straßenbahn. Erzählt werden die fantasievollen Geschichten von dem einstigen DNT-Schauspieler, Regisseur und Autor Hans Lucke. 

Es war einmal eine Kalorie…

Es war einmal eine Kalorie…

Schokolade schwarz und weiß.
Schokolade schwarz und weiß.

Eine Tafel Schokolade: 575 Kilokalorien. Eine Scheibe Brot: 226 Kilokalorien. Eine Flasche Bier: 119 Kilokalorien. Kalorienzählen und Diäten sind aus unserer heutigen Zeit kaum wegzudenken. Doch vor über einhundert Jahren verfolgten sie noch einen ganz anderen Zweck als heute. Arbeiter sollten energiereich und möglichst günstig ernährt werden.

 

Dr. Nina Mackert, Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Leipzig Lab „Global Health“ der Universität Leipzig, erforscht die historische Entwicklung der Kalorie. Sie sagt: Mit der Kalorie wurde seit ihrer Einführung im späten 19. Jahrhundert Gesellschaftspolitik betrieben. Im Gespräch mit der 39-jährigen wird schnell klar, dass sie keine große Anhängerin der Kalorie und des Kaloriemzählens ist. Dennoch ist Mackert fasziniert von ihrer Geschichte und den Transformationen, welche die Kalorie je nach Gesellschaftsbild erfahren hat.

 

Im späten 19. Jahrhundert wurde die Kalorie vom deutschen Chemiker Max Rubner als Maßeinheit für den Energiegehalt von Nahrung eingeführt, doch an Gesundheit, Übergewicht oder Abnehmen dachte man damals nicht. Es ging einerseits darum, das thermodynamische Prinzip der Energietransformation zu beweisen: Energie wird im menschlichen Körper umgewandelt, sie geht nicht verloren. Andererseits war es nun erstmals möglich, den Energiewert von Nahrungsmitteln zu messen und sie miteinander zu vergleichen. So konnte man damals der Arbeiterklasse zeigen, wie sie ohne mehr Geld auszugeben energiereiche Nahrung zu sich nehmen konnte. Auch in Armeen, Krankenhäuser, Gefängnissen oder beim Bau des Panama-Kanals wurden die Mahlzeiten nach Kalorien berechnet. „Die Arbeits- und Leistungsfähigkeit wurde zu dieser Zeit eng mit dem Kalorienbedarf verknüpft: Wer viel arbeitete, sollte auch viel, das heißt kalorisch dicht, essen. Das wurde über die Kalorie noch viel stärker verbunden“, sagte Mackert.

 

Zur Diätmethode wurde das Kalorienzählen erst nach dem 1. Weltkrieg. Das ging einher mit der Transformation der Konsumgesellschaft, vermutet die Historikerin. Der Konsum sollte angeregt werden, zugleich herrschte aber der Imperativ vor, sich auch zurückzunehmen und Kontrolle beim Konsum auszuüben. „Das Kalorienzählen wurde um 1920 zur beliebten Abnehmmethode. Es verdeutlichte: Zum einen bin ich Teil der Konsumgesellschaft und konsumiere, zum anderen bin ich in der Lage, mich zurückzuhalten.“ Zu diesem Zeitpunkt wird auch das Dicksein zum Problem. Menschen mit Übergewicht könnten keine Kalorien zählen und hätten sich nicht unter Kontrolle, lauten die bis heute andauernden Vorurteile und die Konsequenzen der nun scheinbar eindeutigen, weil quantifizierbaren Verknüpfung von Essen und „Übergewicht“.

 

Damit wird die eigene Gesundheit auch zu einer Fähigkeit, wie Mackert es nennt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde Gesundheit eben als gottgegeben verstanden, vom Schicksal und Glück geprägt, aber weniger individuell beeinflussbar. Gesundheit wurde damals meist über staatliche Hygienekampagnen und Public Health-Maßnahmen verordnet, wie beispielsweise die Einführung einer Impfpflicht.

 

Im 20. Jahrhundert kommt dann mehr und mehr das Gefühl auf, die Infektionskrankheiten als die großen Geißeln der Menschheit weitgehend besiegt zu haben. „Jetzt geraten die Zivilisationskrankheiten ins Visier, das Risikofaktorenmodell setzte sich durch. Es folgte der Vorstellung, dass beispielsweise Rauchen, Übergewicht und andere bestimmte Risikofaktoren dazu führen, dass Menschen krank werden. Spätestens damit verlagerte sich Verantwortung für Gesundheit in die alltägliche Lebensweise der Bevölkerung, die Verantwortung für die Gesundheit wurde beim Individuum gesehen.“

 

Denn Gesundheit ist nun die Fähigkeit eines Individuums, sich richtig zu führen und Selbstverantwortung zu übernehmen. Darüber werden auch das Soziale und die Teilhabe an der Gesellschaft bis heute geordnet. „Genau das macht die Kalorie politisch: Sie ist keine unschuldige Einheit, die nur den Wert eines Nahrungsmittels kennzeichnet. Sie war eine Entscheidung für eine spezifische Perspektive auf Essen und auf Körper. Auf ihren Rücken wird Gesellschaft reguliert, wer als ‚good eitizen‘ begriffen wird und wer anerkannt wird“, fasst Nina Mackert zusammen. Die Wissenschaftlerin hofft, dass das Kalorienzählen bald überwunden sein wird und sich die automatische Verknüpfung zwischen Gewicht und Gesundheit auflöst.

Quelle

Leipziger Universitätsmagazin 2021, S. 18, 19

Bildnachweis

Beide Abb. aus Wikimedia; sie sind gemeinfrei.

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