„Goethe war … ein Naturmensch,“ wobei ihn „nicht bloß das Anmutige und Weichgefällige, sondern auch das Gewaltige, Finstere und Rauhe im freien Naturleben … mit Macht an sich zog“. (Carl Gustav Carus im Jahr 1843 in Dresden. S. 61.)
In dem Buch Goethe als Naturforscher im Urteil der Naturwissenschaft und Medizin des 19. Jahrhunderts dokumentiert Dietrich von Engelhardt die europäische Dimension in der Wirkung der naturwissenschaftlichen Ideen des Dichters und Denkers in Weimar auf eine prüfbare wie übersichtliche Weise. Die Grundlage des Buches bilden Texte, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts über das naturkundliche, naturwissenschaftliche und naturphilosophische Schaffen von Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) publiziert worden sind. Es ist eine Novum der Goethe-Forschung, dass die bisher nur verstreut und meist versteckt vorliegenden Publikationen gesichtet, gesammelt und so geordnet worden sind, dass nunmehr eine Bibliothek mit Texten über das naturwissenschaftliche Wirken von Goethe vorliegt. Das Buch im Umfang von 673 Seiten erschien am 09. April 2024 im Verlag J. B. Metzler (Springer-Verlag Berlin). In alphabetischer Folge kommen 48 Goethe-Autoren zu Wort: Von August Aderhold (1828 – 1890) über Hans Molisch (1856 – 1937) bis Hermanus Hartogh Heijs van Zoutheveen (1841 – 1891). Den Originaltexten sind jeweils kurze biographische Angaben zu den Autoren vorangestellt. Meist fallen die Stimmen über Goethe anerkennend aus. Manche Ausführungen sind kritischer und distanzierter gehalten. Aber einige – wie die Wortmeldung von Lorenz Oken (1779 – 1851) von 1847 im Streit über die Erstentdeckung der Wirbeltheorie des Schädels – sind vernichtend und mit bitterbösen Vorwürfen gegen Goethe vermischt. (S. 388.)
Seinen Weg in die drei Welten der Wissenschaft, der Bildenden Kunst und der Dichtung begann Goethe von Sachsen aus. Im Alter von 16 Jahren ließ er sich im Oktober 1765 an der Universität Leipzig immatrikulieren: Der Startpunkt eines universell begabten Genies. Als der Autor des Briefromans Die Leiden des jungen Werthers (1774) und der Tragödie Faust im März 1832 in Weimar starb, wurde er nicht nur als Dichter von Weltrang verehrt, sondern auch als Naturforscher geschätzt. Gut ein Jahrzehnt nach Goethes Tod schrieb der in Dresden wirkende Mediziner, Naturphilosoph und Maler Carl Gustav Carus (1789 – 1869) in seinem Artikel Über Goethes Verhältnis zur Natur und Naturwissenschaft (1843) zu Goethe: „Das Urwesentliche der Pflanze – die Grundgestaltung des Skeletts – das Licht – die Erscheinungen der Atmosphäre – dies waren würdige Vorwürfe, an welchen seine Kräfte sich versuchten.“ (S. 64.) Goethe zeichnete der denkende Zugriff auf die Natur aus. Sein Erfolgsgeheimnis war, dass er sich im Einzelnen auf die Spur des Universellen zu begeben vermochte und sich nicht gedankenlos in der Empirie verlor. Diese Eigenheiten des Naturmenschen Goethe sorgten im Verlauf der ersten Jahrzehnte nach seinem Tod sowohl in Berlin als auch in Paris und in Prag und nicht zuletzt in London für Lob und Anerkennung. So eröffnete Thomas Henry Huxley (1825 – 1895) – gefürchtet als Darwin's Bulldogge - die neue naturwissenschaftliche Zeitschrift Nature im Jahr 1869 in London, indem er an Goethes Auffassungen in der Metamorphose der Pflanzen, des Zwischenkiefers und der Wirbeltheorie erinnerte. Vor allem diese Ideen Goethes hätten Beachtung bei den Naturforschern gefunden. Huxley würdigte die naturkundlichen Gedanken Goethes als „ein wahres und wirkungsvolles Symbol des Wunders und des Geheimnisses der Natur – 'a truthful and efficient symbol of the wonder and the mystery of Nature'.“ (S. 288.)
In seinem Vortrag zum Geburtstag Goethes am 28. August 1856 in Dresden besprach Heinrich Gottlieb Ludwig Reichenbach (1793 – 1879) Göthe als Naturforscher. Der Direktor des Botanischen Gartens und Präsident der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS Dresden feierte Goethe als Denker des Werdens, indem er „... das genetische Prinzip“ hervorhob das „die Basis für alles Forschen und Wirken und Schaffen in Goethe“ geworden ist. (S. 437) In seinem Vortrag konzentrierte sich Reichenbach auf die Herausbildung der Morphologie der Pflanzen im Jahrhundert des schwedischen Botanikers Carl von Linné (1707 – 1778). Linné betonte nicht nur die Stabilität und die Konstanz der Arten. Er beobachtete auch die innerartliche Variation zum Beispiel der Birken zwischen Normalform und Zwergform. Dennoch war von dem Naturforscher in Uppsala der atemberaubende Formenwandel im Verlauf eines einzigen Pflanzenlebens noch nicht auf den Begriff gebracht worden. Reichenbach gehörte in Leipzig zu den Mitbegründern der Naturforschenden Gesellschaft (1818). In der Residenzstadt an der Elbe brachte er im Jahr 1826 die Sächsische Gesellschaft für Botanik und Gartenbau Flora auf den Weg. Der Naturforscher und Goethe-Kenner würdigte die Idee der Metamorphose 1856 mit den Worten: „Goethes Geist … wagte es, was Linné nicht gewagt hatte, sogleich auszusprechen, was er empfunden und was er gedacht, und so gab er schon im Jahre 1790 seine Metamorphose der Pflanzen, die höchst einfache Anschauung von der Entwicklung der einzelnen Teile des phanerogamischen Gewächstypus vom Keimungsakt an bis zur Bildung der Frucht und zum Abschluss des Zyklus eines ganzen sogenannten einjährigen Pflanzenlebens bis zur Wiederentwicklung des Samen.“ (S. 439.) In seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) in Berlin behauptet: „Goethes Metamorphose der Pflanzen hat den Anfang eines vernünftigen Gedankens über die Natur der Pflanze gemacht, indem sie die Vorstellung aus der Bemühung um bloße Einzelheiten zum Erkennen der Einheit des Lebens gerissen hat.“ (Hegel: Enzyklopädie. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. § 345.) Unabhängig von dem Logiker und Philosophen in Berlin argumentierte Reichenbach in Dresden nun aber durchaus ähnlich. Reichenbach bestätigte am Goethe-Geburtstag des Jahres 1856 als Präsident der ISIS, dass Goethes Pflanzenpassion mit einer starken Idee einhergeht: „Seine Grundansicht war ein Entfalten aller Teile der Pflanze aus blattartigen Gebilden, durch fortschreitendes Umwandeln.“ (S. 439.) Goethes Idee der Einheit der differenten Entwicklungsformen im individuellen Pflanzenleben aus dem Jahr 1790 war in der Geschichte der Erforschung des Lebenden kein Irrweg.
In den Wortmeldungen zu Goethe befassen sich nur jeweils einige wenige Autoren mit der Geologie, der Chemie und der Meteorologie. Über die geologischen Arbeiten äußerte sich Franz von Toula (1845 – 1920) im Jahr 1880 in Wien. Mit den chemischen Studien Goethes befasste sich George Herbert Bailey (1852 – 1924) im Mai 1890 in Manchester. Über Goethe's Studium der Meteorologie schrieb Salomon Kalischer (1845 – 1924) 1877 in Berlin. In der Schatzkammer der versammelten Goethe-Beiträge nimmt die Farbenlehre einen Spitzenplatz ein. Zehn Wortmeldungen führen das Stichwort „Farbenlehre“ im Titel. Aber auch Hermann von Helmholtz (1821 – 1894) behandelte unter der Überschrift Über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten (1854) in seinem Vortrag von 1853 in Königsberg die Auseinandersetzung von Goethe mit Isaac Newton (1643 – 1727) um die Farben. Im Rahmen der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS in Dresden wurde nicht nur Goethes Morphologie der Pflanzen gewürdigt, sondern auch sein Werk Zur Farbenlehre von 1810 besprochen. August Aderhold hielt im Jahr 1864 über Die Goethe'sche Farbenlehre einen Vortrag. Bei aller Wertschätzung für Goethe und für den kulturgeschichtlichen Wert seiner Recherchen zum Farbendenken seit dem Altertum deckt Aderhold einen Irrtum des Meisters auf. Während Goethe darauf beharrt, dass das weiße Licht die Urform der Farbbildung ist, hatte Newton in seinen Prismenversuchen aufgezeigt, dass das weiße Licht aus dem farbigen Licht zusammengesetzt ist. Das weiße Licht ist aus der Sicht Newtons ein Resultat, eine Summe oder etwas Zusammengesetztes. In dem Streit von Goethe gegen Newton ergreift Aderhold Partei für das Prismenexperiment des englischen Naturforschers: „Fragen wir nun: Wie verfährt Newton? Die Antwort kann nicht anders lauten als: Richtig im Einklang mit seiner Hypothese. Wie verfährt die gegenwärtige Optik? Richtig im Einklang mit ihrer Hypothese. Wie aber verfährt Goethe? Auf subjektivem Boden stehend, wehrt er alle tiefere Begründung ab; er und seine Anhänger treten darum gleichzeitig mit Newton und der Physik in Widerspruch.“ (S. 29.) Der Redner in Dresden war nicht bereit, das aus seiner Sicht Dogmatische und Irrtümliche in der Farbenlehre Goethes zu übersehen. Ihm lag an dem Nachweis, dass die Wertschätzung für Goethe und dass der Umfang seines Werkes Zur Farbenlehre (1810) nicht dazu führen sollte, ihm in der Ablehnung der additiven Farbtheorie Newtons zu folgen. Das Feld, auf dem Goethe aber in der Farbenlehre Laien wie Künstlern und auch Wissenschaftlern durchaus etwas zu sagen hat, benennt auch Aderhold zum Schluss seines Vortrages mit dem Bereich der ästhetischen oder „subjektiven Farbenwirkungen“. (S. 30.)
Durch den Fokus auf das Subjekt des Sehens und auf das menschliche Auge mit den Beziehungen „zwischen physikalischem Reiz und Sinnesempfindung“ ist das Feld benannt, dem sich Gustav Theodor Fechner (1801 – 1887) gleich seit dem Beginn seines Studiums im Jahr 1817 in Leipzig zu widmen begann. (S. 144) Es imponiert, dass Dietrich von Engelhardt und seiner Frau Ulrike in ihrem Goethe-Buch der textkritische Beweis gelungen ist: An der Wiege der Psychophysik Fechners steht Goethes Farbenlehre! - In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts griff kein Geringerer als der Nobelpreisträger Werner Heisenberg (1901 – 1976) auf die Ideen Goethes zur Farbenlehre zurück. Heisenberg übersah nicht „den erbitterten Kampf, den Goethe gegen die physikalische Optik Newtons in der Farbenlehre geführt hat“. Im Goethe-Jahr 1932 fügte Heisenberg in seinem Vortrag Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärung in Leipzig aber mahnend hinzu: „Es wäre oberflächlich, diesen Kampf als unwichtig zu vergessen; es hat seinen guten Sinn, daß einer der bedeutendsten Menschen alle Kraft daran setzte, die Fortschritte der Newtonschen Optik zu bekämpfen.“ Es verdient Anerkennung, dass Olaf L. Müller den Rat Heisenbergs erhört hat. Der Natur- und Wissenschaftsphilosoph von der Humboldt-Universität in Berlin widmet sich nicht nur den Prismenversuchen Newtons, sondern er geht in seinem Buch Mehr Licht (2015) auch den forschungsmethodischen und experimentellen Gründen nach, die bei Goethe ein Unbehagen beim Blick durchs Prisma verursacht haben. Über Goethes Streit mit Newton um die Farben referierte Olaf L. Müller am 16. April 2024 in der Goethe-Gesellschaft zu Leipzig.
19. August 2024
Literatur:
Dietrich von Engelhardt: Goethe als Naturforscher im Urteil der Naturwissenschaft und Medizin des 19. Jahrhunderts. Themen, Texte, Titel. Unter Mitarbeit von Ulrike von Engelhardt. J. B. Metzler – Springer Verlag Berlin 2024. 673 Seiten.
Der Autor dankt Anke Franzmann vom Verlag Springer Nature für die Erlaubnis, dem Artikel das Cover des Buches über Goethe als Naturforscher beizufügen.
Bildnachweis
Kopfbild: Johann Wolfgang von Goethe 1800. Abb. 4, 5 und 6, alle aus Wikipedia, gemeinfrei.
Abb. 1 Cover Goethe als Naturforscher im Urteil der Naturwissenschaft und Medizin des 19. Jahrhunderts. Verlag J. B. Metzler.
Abb. 2 Dietrich von Engelhardt. Foto: Konrad Lindner.
Abb. 3 Goethedenkmal Leipzig, Naschmarkt. Foto: Wolfgang Brekle.