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Über Werte und Tugenden

Florian Russi

Mehr denn je wird über die althergebrachten Werte und Tugenden diskutiert. Sind Tugenden und Werte Begriffe aus der Klamottenkiste oder bestimmen sie auch heute noch unser Handeln? 

Dr. Clara Haber, geb. Immerwahr (1870 – 1915)

Dr. Clara Haber, geb. Immerwahr (1870 – 1915)

Friedrich Ekkehard Vollbach

„Krankheiten der Seele können den Tod nach sich ziehen,
und das kann Selbstmord werden."
                                                                      G. Chr. Lichtenberg
Clara Immerwahr (1)
Clara Immerwahr (1)
Mein Onkel, von Beruf Chemielehrer, schrieb Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Chemielehrbuch. In den Textabschnitt, der das „Haber - Bosch - Verfahren" 1 erläuterte, hatte er das Bild eines der geistigen Väter dieses Verfahrens, des Chemikers Dr. Fritz Haber, eingefügt. Das war Anlass für die Nazis, dieses Lehrbuch, das recht verständlich und informativ war, auf den Index zu setzen und zu verbieten. Deswegen habe ich mich bereits als Grundschüler für den Chemiker Dr. Haber interessiert, der zur Herstellung von Kunstdünger beigetragen hat und damit eine effektive Bodennutzung möglich machte.
Fritz Haber war Jude. Das genügte den Ideologen des sog. Dritten Reiches, um die Erinnerung an einen bedeutenden deutschen Wissenschaftler auslöschen zu wollen.
Die heutige Sicht auf diesen Chemiker ist allerdings nicht unkritisch. Der Grund dafür ist natürlich nicht seine jüdische Abstammung, sondern die Tatsache, dass durch seine Forschungen und seine Zusammenarbeit mit dem Militär im 1. Weltkrieg tausende Soldaten elendiglich an Giftgas erstickt sind. Seine Frau, die geniale Chemikerin Dr. Clara Haber, geb. Immerwahr, konnte die todbringenden Forschungen ihres Mannes weder akzeptieren noch psychisch verkraften. Sie schied vielleicht auch deswegen aus dem Leben.
Um dem Leben dieser Frau nachspüren zu können, müssen wir uns in das einstige Breslau begeben: 1875, fünf Jahre nach der Geburt von Clara Immerwahr, ist Breslau (polnisch: Wroclav) mit 239.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des deutschen Kaiserreiches. Rund 6% der Einwohner bekennen sich zur jüdischen Religion. 1872 baut diese große jüdische Gemeinde, trotz innergemeindlicher kontroverser theologischer Richtungsstreitigkeiten, eine neue Synagoge, die 1800 Besuchern Platz bot und eine der prächtigsten in Deutschland war.
Wenn man sich die Größe der jüdischen Gemeinde in und um Breslau vergegenwärtigt, dann ist es gar nicht verwunderlich, dass von den neun (!) Nobelpreisträgern, die in Breslau geboren wurden oder in Breslau tätig waren, vier jüdische Wurzeln hatten, nämlich der Mediziner Paul Ehrlich, der Chemiker Fritz Haber, der Physiker Otto Stern und der Volkswirt und Mathematiker Reinhard Selten.
Zur jüdischen Gemeinde in Breslau gehörten auch der Kaufmann David Immerwahr und seine Ehefrau Caroline, geb. Silberstein. Ihr Sohn Philipp studierte in Breslau und Heidelberg Chemie. Nach seiner Promotion träumt er von einer wissenschaftlichen Karriere an einer Universität, doch er ist Realist genug, um zu wissen, dass er als Jude diesbezüglich kaum Chancen hat. Darum bewirtschaftet er das Gut Oswitz in Polkendorf (heute Wojczyce), das sich in Familienbesitz befindet. Philipp Immerwahr züchtete dort zuerst Schafe, stellt dann aber seinen Betrieb auf Getreideproduktion um. Da er Chemiker ist, experimentiert er mit Kunstdünger, erzielt damit sehr gute Ernteerträge und bringt es so zu einigem Wohlstand.
Er heiratet seine sieben Jahre jüngere Cousine Anna, geb. Krohn. Das Ehepaar hat einen Sohn (Paul) und drei Töchter (Elisabeth, Rosalie und Clara). Clara, die jüngste der drei Töchter, wird am 21. Juni 1870 geboren. (18 Tage später erfolgt die Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland, Auslöser dafür war die sog. Emser Depesche).
Die Kinder wachsen in einer sehr liberalen und bildungsorientierten Familie auf. Der Vater befürwortet zum Beispiel die Geistesbildung der Frauen, eine Sicht, die keineswegs alle Männer zur damaligen Zeit mit ihm teilten. Die Immerwahrs blieben zwar Juden und ließen sich nicht taufen, aber den Synagogalgottesdienst besucht die Familie nicht.
Im Sommer, wenn die Familie auf Gut Oswitz lebt, erhalten die Kinder Privatunterricht. Im Winter wohnt die Familie bei der Großmutter in Breslau. Dort besuchen die Töchter die höhere Mädchenschule. In dieser Bildungseinrichtung für die sog, höheren Töchter blieben die Mädchen ungefähr neun bis zehn Jahre. Danach verließen die Schülerinnen die Schule ohne einen qualifizierten Abschluss. Das war ja auch nicht nötig, denn die Absolventinnen sollten ja nur auf ihre Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. Dazu brauchte es keinen qualifizierten Abschluss.
Die Direktorin der Mädchenschule, Frau Knittel, eine gebildete, weitgereiste und der Frauenbewegung nahestehende Frau, fördert die hoch begabte Clara Immerwahr. Von ihr erhält die Schülerin das bereits 1801 erschienene Sachbuch der Engländerin Jane Marcet mit dem Titel „Conservations on Chemistry". Dieses Buch gab wohl den Anstoß für Claras Interesse an Chemie.
Der Vater ist sichtlich erfreut darüber, dass sich seine Tochter für sein Metier interessiert. Die Knittel sorgt auch dafür, dass Clara außerhalb des regulären Unterrichts vom Chemielehrer der Schule im Fach Chemie unterrichtet wird.
1890 stirbt Claras Mutter an Krebs. Der Vater übergibt Gut Oswitz an seine Tochter Elisabeth und deren Ehemann Siegfried Sachs. Vater und Tochter Clara ziehen nach Breslau, wo die Großmutter ein großes Konfektionsgeschäft besitzt.
Frauen, die zu dieser Zeit über das an der höheren Töchterschule Gebotene hinaus Wissen erlangen wollen, haben nur die Perspektive, ein Lehrerinnenseminar zu besuchen. Die Ausbildung zur Lehrerin dauerte drei bis vier Jahr. Nach dem Abschluss der Ausbildung können die Fräulein als Gouvernante (Lehrerin für sog. höhere Kreise) tätig sein. Clara geht diesen Ausbildungsweg.
Ab 1893 besteht in Preußen die Möglichkeit für Frauen, im Anschluss an die höhere Mädchenschule sog. gymnasiale Kurse zu besuchen. Und drei Jahr später dürfen Frauen sogar Gasthörerinnen an der Universität sein. Clara, die inzwischen als Gouvernante tätig ist, nutzt all die neuen Chancen für Frauen, Bildung zu erwerben.1996 bittet sie Geheimrat Meyer, Professor für Experimentalphysik, um die Erlaubnis, Gasthörerin an der Universität Breslau sein zu dürfen. Der Prof. empfängt sie mit den Worten „Ich halte nichts von geistigen Amazonen". Wie viele seiner Kollegen ist er erklärter Gegner des Frauenstudiums.
Clara gelingt es, durch ihr Wissen, durch ihre Hartnäckigkeit und durch Zivilcourage die erbetene Genehmigung zu erhalten. Sie darf Gasthörerin bei den Chemikern sein. Über die Pöpeleien und Anfeindungen der Studenten und Professoren, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, sieht sie notgedrungen hinweg. Es stört sie auch nicht, dass man im Familien- und Bekanntenkreis über den „Blaustrumpf" 2 Clara verwundert den Kopf schüttelt.
Der Privatdozent Richard Abegg wird ihr Lehrer. Er begegnet ihr durchaus vorurteilsfrei und lässt sie an seinen Forschungen teilhaben. 1897 besteht Clara das Abitur als „Externe" an einem Gymnasium für Jungen. (Gymnasien für Mädchen gab es ja nicht.) Damit ist sie berechtigt, ein Vollstudium an der Universität Breslau aufzunehmen.
Leopoldineum - Auditorium Academicum, March 23rd 2007 (2)
Leopoldineum - Auditorium Academicum, March 23rd 2007 (2)

Bereits ein Jahr später besteht sie das sog. Verbandsexamen.3 Das Bestehen dieses Verbandsexamens ist inzwischen Voraussetzung zum Erwerb eines Doktortitels.
Zwei Jahre später promoviert Clara Immerwahr mit der Arbeit „Beiträge zur Löslichkeitsbestimmung schwer löslicher Salze" bei Professor Abegg. Nach der Disputation am 22. 12. 1900, zu der wohl eine ganze Reihe neugieriger Kritiker des Frauenstudiums erschienen war, erhält sie das Prädikat „magna cum laude".
Ihre Forschungsergebnisse spielen heute noch eine Rolle beim Bau von Batterien und Elektromotoren.
Clara Immerwahrs Promotion ist eine Sensation. Immerhin hat erstmals eine Frau in Deutschland einen Doktortitel im Fach Chemie erlangt. In der „Provinzial - Zeitung" Breslau ist am 22. Dezember 1900 zu lesen: „Unser erster weiblicher Doktor. Sonnabendmittag 12 Uhr sine tempore fand in der Aula Leopoldina unserer Alma Mater die Promotion des Fräulein Immerwahr statt."
(Zum Gedenken an die durch ihren Fleiß, ihre Beharrlichkeit und ihr Wissen beeindruckende Forscherin vergibt die Technische Universität Berlin seit einigen Jahren den Clara - Immerwahr - Preis an vielversprechende Nachwuchswissenschaftlerinnen aus dem Bereich Katalyse - Forschung.)
Ausführlich wird in dem Artikel der „Provinzial - Zeitung" das Lob des Dekans der Fakultät zitiert. Doch der lässt sich selbst bei der Promotionsfeier nicht davon abhalten, in seiner Rede unmissverständlich klarzustellen, dass „Frauen nach wie vor ihre schönste und heiligste Pflicht zu erfüllen haben", nämlich „ein Hort der Familie zu sein."4 Mit ihrer Promotiont hat Clara alles erreicht, was damals für eine Frau im Fach Chemie zu erreichen war. Eine Anstellung erhält sie selbst als erfolgreich promovierte Chemikerin an der Universität nicht. Die Dreißigjährige kann nur als unbezahlte Laborassistentin bei Prof. Abegg wissenschaftlich tätig sein. Doch mit der Zeit wird sie immer selbstbewusster. Ihr Umgang mit Kollegen, die oft autoritär und unsachlich argumentieren, ist und bleibt kollegial und elegant.

Fritz Haber (3)
Fritz Haber (3)
Im Januar 1901 begegnet sie auf einer Tagung dem jungen Professor der Chemie Dr. Fritz Haber. Er ist ein Freund ihres Doktorvaters Abegg. 1893 trat er zum Christentum über, um bessere Berufschancen zu bekommen. Dadurch kam es zum Bruch mit seinem Vater, der wegen der Taufe des Sohnes mit ihm brach. Haber Junior kann nun (1898) Professor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe werden. Clara Immerwahr konvertierte wahrscheinlich auch aus pragmatischen Gr&uumuuml;nden 1897 zum Christentum.
Im Jahr 1891, als Haber seine Militärzeit ableistete, ist Clara ihm schon einmal begegnet. Nun macht er ihr - wie schon damals - einen Heiratsantrag. Clara zögert. Erst als sie eine Nacht darüber geschlafen hat, gibt Clara, inzwischen 30 Jahre alt, ihr Ja-Wort. Im August 1901 heiraten die beiden. Sie haben die Absicht, eine Forscherehe zu führen wie die Curies in Paris, doch das wird ihnen nicht gelingen.
Das junge Paar bezieht eine sehr großzügige, aber sehr teure Wohnung. Dienstboten können sie sich darum nicht leisten. Mithin muss sich Clara mehr und mehr um die Hausarbeit kümmern.
1901 kann sie noch nachmittags im Institut arbeiten, das heißt Manuskripte korrekturlesen, Übersetzungen von Fachliteratur anfertigen und andere wissenschaftliche Hilfsarbeiten erledigen. Doch nach und nach verschwindet sie im Schatten ihres Ehemannes.5 erscheint Fritz Habers Buch über die Thermodynamik. Er widmet es seiner Frau, ohne zu erwähnen, dass sie wissenschaftlich daran beteiligt war.
An Abegg schreibt sie: „Aber zum Arbeiten im Laboratorium werde ich wohl kaum mehr gelangen, denn meine Tage sind mit Arbeit reichlich ausgefüllt. Vielleicht später einmal wieder, wenn wir Millionäre sind und uns eine Dienerschaft halten können. Doch ganz darauf verzichten kann ich selbst in Gedanken nicht."
1902 wird nach schwieriger Schwangerschaft Sohn Hermann geboren. Kommentar Claras zu Schwangerschaft und Geburt: „Lieber noch zehn Doktorarbeiten machen, statt sich so quälen zu müssen." Bereits in den Flitterwochen verweigert sich Clara ihrem Manne. Sie empfand jede körperliche Berührung als Qual.6 Nach der Rückkehr ihres Mannes von einer USA - Reise gibt es kein gemeinsames Schlafzimmer mehr. Die Eheleute leben nebeneinander her in kühler Atmosphäre.
Sie hält Referate, die sie vom wissenschaftlichen Niveau her in keiner Weise befriedigen, aber ihr durch das Interesse der Zuhörer an ihren Ausführungen ein wenig Freude machen. Im Karlsruher Arbeiterbildungsverein zum Beispiel hält sie eine Vortragsreihe über „Naturwissenschaften im Haushalt". Bis zu 100 Interessenten besuchen ihre Vorträge. Über deren Reaktion schreibt sie 1906 an Abegg: „Die Damen sind begeistert." Und sie ist empört, wenn irgendwelche Leute meinen, der von ihr gehaltene Vortrag sei wohl von ihrem Mann für sie verfasst worden.
Porträt Fritz Haber mit Bart und weißem Kittel im Labor stehend (4)
Porträt Fritz Haber mit Bart und weißem Kittel im Labor stehend (4)
In Karlsruhe gelingt Fritz Haber zwischen 1904 und 1910 seine größte Erfindung, nämlich die Synthese von Ammoniak aus Wasserstoff und dem Stickstoff der Luft, für die er 1918 den Nobelpreis erhielt. Doch Claras Bilanz dieser Zeit sieht anders aus. 1909 schreibt sie in einem Brief an Prof. Abegg: „Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das - und noch mehr - habe ich verloren, und was von mir übrig ist, erfüllt mich mit der tiefsten Unzufriedenheit."7
Haber ist ein geselliger Typ, der Tischgemeinschaften liebt. Er ist ein guter Unterhalter und steckt manchmal voller Narreteien und Witz. Er lädt häufig zu Abendgesellschaften ein und lässt sich gern zu solchen einladen, vor allem, wenn diese Einladungen von einflussreichen Persönlichkeiten ausgesprochen werden. Und Haber liebt das Repräsentieren, seine Frau dagegen hat für derartige Dinge wenig übrig.
Clara hat mehr und mehr die „Rolle der repräsentierenden, umsorgenden und allenfalls zuarbeitenden Professorengattin zu übernehmen.".8 Ihr Mann missachtet die wissenschaftliche Bemühungen seiner Frau. Außerdem ist Fritz Haber ein äußerst ehrgeiziger „Workaholic."9 So schreibt Clara an ihren Doktorvater (1909):
„Der Aufschwung, den ich davon (Eheschließung) gehabt, ist aber sehr kurz gewesen...So ist der Hauptteil (der Unzufriedenheit) auf Fritz erdrückende Stellungnahme für seine eigene Person im Hause und in der Ehe zu schreiben, neben der einfach jede Natur, die nicht noch rücksichtsloser sich auf seine Kosten durchsetzt zugrunde geht. Und das ist bei mir der Fall."10
Die Ehe ist bereits total zerrüttet, als die Habers 1911 nach Berlin ziehen, da Fritz Haber Gründungsdirektor des „Kaiser - Wilhelm - Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie" in Berlin - Dahlem wird. Gleichzeitig ernennt man ihn zum ordentlichen Professor für Physikalische Chemie an der Universität Berlin. Er unterrichtet übrigens gern und seine Schüler berichten davon, dass er ein guter und interessanter Lehrer gewesen sei.
Berlin-Dahlem Hittorfstraße Haber-Villa (5)
Berlin-Dahlem Hittorfstraße Haber-Villa (5)
Die Familie wohnt nun in einer ansehnlichen Dienstvilla in der Nachbarschaft des Instituts. Aber Clara beginnt mehr und mehr auf ihre Art gegen die ihr aufgezwungene Rolle der dienstbaren Gattin zu opponieren. Sie interessiert sich für die „lebensreformerische Gedankenwelt"11, in der auf vielfältige und diffuse Weise Wege zu einem alternativen Leben gesucht werden. Das zeigt sich vor allem an ihrem Äußeren. Sie trägt jetzt Reformkleider, die von den meisten ihrer Zeitgenossinnen als schlampig angesehen werden, da bei dieser Kleidung auf das die Figur „formende" Korsett verzichtet wird. Die Reformkleider hingen formlos und lose von den Schultern herunter.12 (Diese Mode veranlasste den Sänger und Komiker Otto Reutter den Couplet -Scherz „Helene im Reformkleid" zu schreiben.)
Dem modischen Geschmack ihres Mannes entsprechen ihre Reformkleider überhaupt nicht und schon gar nicht dem seiner Kollegen und noch weniger dem Geschmack ihrer Frauen.
Mit der Zeit wird Clara Kleidung immer weniger wichtig. Der Physiker und Nobelpreisträger (1926) James Franck, ein Mitarbeiter Habers beim Einsatz von Giftgas an der Front, verwechselte peinlicher Weise beim Kennenlernen die Frau des Professor Haber mit deren Putzfrau. Franck erkennt aber sehr schnell, dass die „übertrieben schlichte Kleidung" der Frau Dr. Haber der Ausdruck des Protests gegen ihren Mann ist.13
Die Damen der Gesellschaft können es kaum fassen und sind schockiert darüber, dass Frau Geheimrat Dr. Haber zusammen mit ihren Dienstmädchen Kaffee trinkt. Und außerdem geht sie selbst zum Einkaufen auf den Markt.Die zur Abendgesellschaft im Hause Haber geladenen Gäste sind völlig perplex, wenn sie von der Frau Gemahlin des Gastgebers mit der Küchenschürze angetan empfangen werden. Und sprachlos sind die Gäste des Abends auch, wenn sich die Frau des Hauses in froher Runde plötzlich erhebt und sich entschuldigt und mit den Worten verabschiedet: sie sei nun müde und müsse zu Bett gehen, da sie gezwungen ist, morgen früh bereits um 6. 00 Uhr aufzustehen.14
Zeitzeugen bescheinigen der Dr. Clara Haber eine große Einfachheit, eine übergroße Sparsamkeit und eine übertriebene Gewissenhaftigkeit. Letztere äußerte sich zum Beispiel in der fortwährenden Sorge um die Gesundheit ihrer Familie. Natürlich ist ihr Sohn Hermann etwas kränklich, doch sie übertreibt die hygienischen Maßnahmen derart, dass alle Welt darüber spottet.15
Wenn ihr Mann fasziniert von einem Problem nicht zum Mittagessen nach Hause kommt, bringt sie ihm das Essen ins Institut. Das ist von ihr zwar gut gemeint, aber ihn regt es immer mächtig auf, denn gerade eben ist er dabei, einem äußerst komplizierten Problem nachzugehen. Darum möchte er im Moment in Ruhe gelassen und nicht durch so nebensächliche Dinge wie Mittagessen belästigt werden. Fritz Haber war selten zu Hause, da er viel auf Reisen ist. Natürlich hat er Affären mit anderen Frauen.
Im Jahr 1914, gleich zu Beginn des Krieges, meldete sich der Herr Geheimrat Dr. Fritz Haber als Kriegsfreiwilliger. Clara teilt die Kriegsbegeisterung ihres Mannes und ihrer Zeitgenossen nicht. Sie sympathisiert mit der Friedensbewegung und bewundert die Pazifistin Bertha von Suttner.16
Der Geheimrat und erfolgreiche Chemiker wird natürlich nicht als Soldat an die Front abkommandiert, sondern zur „Hauptwehrstoffabteilung". Kurze Zeit später leitet er die „Zentralstelle für Fragen der Chemie" des Heeres. Als der Chef des Generalstabs im Dezember 1914 die Heeres-Chemiker auffordert, nach einem Stoff zu suchen, der Menschen kampfunfähig macht, empfiehlt Friz Haber Chlorgas dafür zu verwenden.17
Im Januar 1915 reist Clara mit ihrem Mann nach Köln. Dort werden Soldaten, Freiwillige (vor allem Abiturienten) für den Gaskrieg ausgebildet. Auf dem Übungsgelände hat man die Frontsituation nachgestellt mit Schützengräben, in denen sich Tiere befinden. Nachdem das Giftgas aus den entsprechenden Flaschen entweichen kann, legt es sich als eine Giftwolke über das Übungsgelände. Die Tiere in den Gräben verenden jämmerlich. Clara ist entsetzt. Man erzählt sich, dass sie sich vor den anwesenden Chemikern, den Vertretern der Industrie und den Militärs heftig gegen das Tun ihres Mannes gewandt habe. Sie wirft ihm vor, dass seine Tätigkeit eine „Perversion der Wissenschaft" darstellt. Er hält ihr entgegen: ihr Idealismus sei realitätsfremd.
In Artikeln, die keine Zeitung veröffentlicht, wendet sich Clara gegen den Einsatz von Giftgas. In einer Auseinandersetzung über den Krieg und den Einsatz von Giftgas soll Fritz Haber seine Frau sogar als Vaterlandsverräterin beschimpft haben.
Fritz Haber begibt sich an die Front, um die Vorbereitungen des Gasangriffs in der 2. Flandernschlacht bei Ypern selbst zu überwachen. Am 22. April 1915 um 18. 00 Uhr werden 160 Tonnen Chlorgas aus 6000 Flaschen abgelassen. Eine 6 km breite und 1 km lange Gaswolke treibt auf die gegnerischen Stellungen zu. Die Wirkung ist verheerend.
Fritz Haber wird auf Grund seiner Leistungen in Sachen Gaskrieg auf Befehl des Kaisers zum Hauptmann befördert. Endlich hat er ein Offizierspatent erhalten, was ihm 26 Jahre zuvor verwehrt worden war. Nach Berlin zurückgekehrt, gibt er in seinem Haus anlässlich seiner Ernennung zum Hauptmann eine Abendgesellschaft.
Als die Gäste gegangen waren, legte er sich zu Bett, nicht ohne ein starkes Schlafmittel einzunehmen, wie es seine Gewohnheit war. Seine Frau dagegen schreibt Abschiedsbriefe. Dann zieht sie die Dienstpistole des Hauptmanns aus dem Holster, geht in den Garten und feuert auf der Wiese einen Probeschuss ab. Danach schießt sie sich ins Herz. Clara Immerwahr verstirbt eine Zeit nach dem tödlichen Schuss. Ihr 12 jähriger Sohn Hermann ist der einzige, der den Schuss hörte. Er ist es auch, der den Vater weckt.
Fritz Haber reist einen Tag später - wie befohlen - an die Ostfront, was er in einem solchen Falle nicht hätte tun müssen. Seinen Sohn lässt er allein in Berlin zurück.
Statt der sonst üblichen Todesanzeige ist lediglich am 8. Mai (!) 1915 in der Grunewald - Zeitung zu lesen: „Durch Erschießen ihrem Leben ein Ende gesetzt hat die Gattin des Geheimen Regierungsrates Dr. Haber in Dahlem, der zur Zeit im Felde steht. Die Gründe zur Tat der unglücklichen Frau sind unbekannt."
Claras sterbliche Überreste werden eingeäschert, was darauf schließen lässt, das sie und ihr Mann Freidenker gewesen sind.
Porträt der Clara Immerwahr 1900, Gemälde von Clara Sachs (1862-1911). (6)
Porträt der Clara Immerwahr 1900, Gemälde von Clara Sachs (1862-1911). (6)
Die wahren Gründe für Claras Freitod sind nicht eindeutig klar, denn die letzten Lebensmonate Claras bestehen aus mehr Lücken denn aus Fakten, die durch sichere Quellen belegbar sind.
Die Familie hat stets dazu geschwiegen. Nur einmal äußert sich Fritz Haber zum Freitod seiner Frau, nämlich in einem Brief vom Juni 1915, in welchem er schreibt: „Sie hat das Leben nicht mehr ertragen." Es gibt kaum verwertbares Material zur Erforschung der Gründe des Freitodes der Clara Immerwahr. Ein Sektionsbericht liegt nicht vor. Die Abschiedsbriefe sind nicht auffindbar, obwohl das Dienstpersonal sie noch gesehen haben will.
Das Tatmotiv aufklärende Informationen sind nicht bekannt. Alle Informationen zum Tode der unglücklichen Frau wurden zurückgehalten oder vernichtet. Das entspricht allerdings der damals üblichen Praxis in den sog. besseren Kreisen. Man kann nur versuchen, mit dem vorliegenden spärlichen Material das Leben der Clara Immerwahr zu rekonstruieren.18 Das ist auch in großem Umfange in letzter Zeit in den Medien geschehen (bis hin zum Fernsehfilm mit dem Titel „Clara Immerwahr", der am 28. Mai 2014 in der ARD ausgestrahlt wurde).
Habers Bemerkung über Claras Tod im Brief vom Juni 1915, die Andeutungen der Familie und die Tatsache, dass man von drei Aufenthalten Claras in einem Sanatorium weiß (1906, 1910, 1913), führten dazu, dass man unterstellt, Clara sei psychisch krank gewesen und diesbezüglich erheblich erblich vorbelastet. Der Freitod ihres Sohnes Hermann in den USA im Jahr 1947 soll diese Annahme bestätigen.

Einige Biografen sehen in Clara Immerwahr eine unermüdliche Friedensaktivistin, die sich vehement dafür einsetzt, dass die chemische Wissenschaft nicht durch die Produktion von Massenvernichtungsmitteln pervertiert wird. Um die Öffentlichkeit aufzurütteln, damit der unmenschliche Einsatz von Giftgas, an dessen Entwicklung ihr Mann beteiligt ist, gestoppt wird, erschießt sie sich mit der Dienstpistole ihres Mannes, ein für Frauen eher seltener Freitod.
Für andere Biografen gilt Clara als das Opfer ihres egozentrischen Mannes, der seiner Frau in Machoart die Rolle der dienenden Hausfrau aufzwingt und ihr nicht die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Karriere gönnt. Dazu kommen seine Affären, die Clara demütigen, und sein Ehrgeiz und seine Arbeitswut, die keine Grenzen kennen. Ein Leben neben diesem Mann wird für Clara immer unerträglicher.

Welche These ist nun die zutreffende?
Im Kondolenzschreiben des ehemaligen Schulleiters an Hermann Haber anlässlich des Todes von Fritz Haber im Jahr 1934 ist zu lesen:
ich denke daran, „wie Ihre Frau Mutter gleich nach dem Empfang einer telegraphischen Mitteilung zu mir kam und mir von dem Erfolg des ersten Gasangriffes" (desjenigen bei Ypern) brichtete".19
Und der Institutsmechaniker Hermann Lütge, der die Eheleute Haber sehr verehrte, schreibt in seinen Erinnerungen an die Habers: die Frau Geheimrat sei „einfach nicht imstande (gewesen), intensiv über die Verwerflichkeit des Gaskrieges nachzudenken. Die Chefin mag stolz gewesen sein auf die Leistung ihres Mannes." 20 Diese schriftlichen Zeugnisse passen so gar nicht zum Bild der sich mutig gegen denGaskrieg einsetzenden Chemikerin.

Lütge brachte seine Erinnerungen an die Ereignisse des Jahres 1915 erst 1934 zu Papier. Inzwischen waren 40 Jahre vergangen. Er bezieht sich dabei auf (heute nicht mehr nachprüfbare) Aussagen der Dienstboten im Hause Haber und die des Chauffeurs. Lütges dramatische und die Fantasie beflügelnden Details sind für manche Biografen sehr willkommen, vor allem was die Rekonstruktion der letzten Stunden von Claras Leben betrifft. Zu diesen Details gehören unter anderem der Bericht von der Abendgesellschaft, auf der Habers Ernennung zum Hauptmann gefeiert wurde, Lütges Mitteilung, dass auch Charlotte Nathan (Haber heiratete sie zwei Jahre später) an diesem Abend zugegen war und von Clara in beschämender Zweisamkeit mit ihrem Mann überrascht wurde. Auch von den Abschiedsbriefen, der Tatwaffe und den zwei abgegebenen Schüssen weiß man nur durch Lütge.

Der letzte und wahre Grund des tragischen Todes der Chemikerin Dr. Clara Haber, geb. Immerwahr wird wohl im Dunkel bleiben.

Fußnoten

1  Verfahren zur Synthese von Ammoniak aus Luftstickstoff und Wasserstoff

2  Abwertende Bezeichnung für gebildete, dem gängigen „Ideal der Weiblichkeit" nicht entsprechende Frauen. Heute würde man sie wohl Emanzen nennen.

3  Für Chemiker gab es bis dato weder an den Universitäten noch an den Technischen Hochschulen staatliche Abschlussprüfungen. Jede Bildungseinrichtung legte selbst fest, über welches Wissen ein Absolvent verfügen muss. Mithin gab es erhebliche Niveauunterschiede bei den Bewerbern um eine Stelle als Chemiker in der Industrie. Vertreter der Industrie verlangten eine vergleichbare Abschlussprüfung für Chemiestudenten. Aus diesem Grunde wurde 1898 das Verbandsexamen eingeführt, das nun sowohl an den Universitäten als auch an den Technischen Hochschulen abgelegt werden musste.

4  Zit. n. V. Ullrich, Die Zerstörung einer Frau, ZEIT ONLINE, 1993

5  Gudrun KIammasch, Der Konflikt zwischen Clara Immerwahr und Fritz Haber, Vortrag im Studium Generale der Uni Heidelberg am 2. 6. 2014

6 Margit Szöllösi - Janze, Fritz Haber - eine Biografie, C. H. Beck, München, 1998, S. 398

7 zit. n. H. Heher, Wer ist Clara Immerwahr? 1992

8 Luise F. Pusch, Clara Immerwahr, verh. Haber, Biografie bei Fembio (www fembio org)

9 Jewish Women's Archive (jwa.org / encyclopedias / article / immerwahr - clara

10 Zit. n. J. Heher, a. a. O.

11 Margit Szöllösi - Janze, a. a. O., S.194

12 Das wichtigste Kleidungsstück der Frauen im 19. Jahrhundert war das Korsett, da es den Körper der Frauen gemäß dem damaligen Schönheitsideal formte (schlanke Taille - Idealmaß 46 cm - herausgehobener Busen ). Allein das Gewicht der Unterkleider einer Frau betrug im Durchschinitt 5 Pfund.

13 Margit Szöllösi, a. a. O

14  ebenda, S. 195

15 ebenda

16 Erwin Starke, Das Chemie - Unglück (Der Tod von Clara Immerwahr, Tagesspiegel, April 2015

17 Jörn Heher, a. a. O.

18 Gerit von Leitner, Der Fall Clara Immerwahr: Leben für eine humane Wissenschaft, C.H. Beck, München, 1994

19 M. Szöllösi - Janze, a. a. O., S.397

20 a. a. O.

Bildnachweis

Bilder 1, 2, 3 und 6 sind gemeinfrei.

Bild 4: Bundesarchiv, Bild 183-S13651 / CC-BY-SA 3.0

Bild 5:  Fridolin freudenfett (Peter Kuley)

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