Poesie
ist Leben
Prosa
ist der Tod,
Engelein
umschweben
Unser
täglich Brot.
Wer sich bei „google“ über Leben und Werk der Friederike Kempner informieren möchte, wird erstaunt sein, wie viele Beiträge, Artikel und Essays er dort über die schlesische Dichterin findet. Da wird „Tante Riekchen“ von einigen Verfassern als Scherzkeks belächelt oder mit beißendem Spott bedacht und von anderen - trotz aller Kauzigkeit – als couragierte, von großem sozialen Engagement beseelte Reformerin gefeiert. Literaturkritiker waren (und sind) entsetzt über ihre eigenwillige Poesie, die doch Zeitgenossen begeisterte, wie sie Regenten mit Denkschriften und Petitionen bedrängte.
Wer war diese Frau, derentwegen - Gerücht hin oder her - Alfred Kempner (1867– 1948), der Reich - Ranicki des Wilhelminischen Deutschlands und der Weimarer Republik, seinen Namen in Kerr änderte, um nicht mit seiner dichtenden Tante Friederike, dem „ Schlesischen Schwan“ (so ihr anderer Beiname), in Verbindung gebracht zu werden, deren oft skurrilen Verse ihm gegen den Strich gingen. 1 Bert Brecht, dessen Stücke Kerr scharf kritisierte und ihn unter anderem einen „Ragoutkoch“ nannte, hielt dagegen und bemerkte süffisant, dass Kerrs Komik wohl das Erbteil der unfreiwilligen Komik seiner Tante Friederike Kempner sei. Kerr wehrte sich gegen diese Unterstellung und schrieb bitterböse im Berliner Tageblatt:
„Gute
Tante, schlummre selig.
Gute
Tante, schlummre brav.
Leider
Gottes scheuchen schmählich
Meine
Gegner Dir den Schlaf.
Auf
dem Friedhof und Gebeinfeld
Hört
man manchmal I – a schrein.
Wenn
dem Esel nichts mehr einfällt,
fällt
ihm meine Tante ein.“ 2
Wo
hat diese schlesische Frau, die so polarisierte, ihre Wurzeln?
Ihr
Großvater hieß Reb Leib (Leib = Levi) Kempner. Er wurde im Jahre
1755 in Kempen
(Schlesien) geboren. (In der „Genealogie jüdischer Familien“
wird angemerkt:
„Also Known As „Loebel“"3).
Er war kein Rabbi. Das „Reb“ vor seinem Namen ist ein Ehrentitel,
der ihm für seine Verdienste als Vorsteher der jüdischen Gemeinde
Kempens verliehen wurde. Seinen Lebensunterhalt verdiente Reb Kempner
als „Farmer and wine dealer“4.
Zu dem Namen Kempner kam es wahrscheinlich auf folgende Weise: Einige
Territorialherren in Posen drangen (lange vor dem Erlass des sog.
Judenedikts von 1812) darauf, dass die in ihrem Herrschaftsbereich
wohnenden Juden deutsche Familiennamen annehmen. Das könnte der
Grund dafür sein, dass der Reb Leib den Namen seiner Heimatstadt als
Nachnamen wählte, denn er war Bauer und Weinhändler in der kleinen
Stadt Kempen (heute Kepno),die im Kreis Posen (Polen) liegt und etwa
80 km nordöstlich von Breslau zu finden ist. Als Reb Leib Kempner 35
Jahre alt war, wohnten in diesem Ort 1500 Juden, das waren 60% der
dort lebenden Einwohner. 1821 zählte man sogar 3556 Juden in Kempen.
Das heißt, 80% der dortigen Bevölkerung waren Juden. Damit war die
dortige Judengemeinde die viertgrößte in Preußen.
Seine
Frau Luise war eine geborene Herschel. Der Name Luise ist kein hebräischer
Name. Er hat seine Wurzeln im Althochdeutschen. Man könnte daraus
schließen, dass Kempners Frau aus einer aufgeklärten, liberalen jüdischen
Familie stammt.
Der
Sohn Joachim Kempner verließ das Gebiet Posen und siedelte sich in Schlesien
an. Die Situation der Juden in Schlesien war trotz aller Probleme und
mancher Niederträchtigkeiten etwas günstiger als im übrigen
Preußen. Das hatte folgende Gründe:
Die
schlesischen Gebietsherren siedelten nach dem Dreißigjährigen Krieg
Juden in ihrem Herrschaftsgebiet an. Die waren als Gutsinspektoren,
Pächter, Müller, Bäcker,
Dorfkaufleute und besonders auch als Schankwirte, Brauer oder Schnapsbrenner
tätig. 5 Friedrich
II. beabsichtigte eigentlich, sofort nach der Annexion Schlesiens,
alle mittellosen Juden aus Schlesien auszuweisen. Doch die Beamten
der neuen preußischen Provinz stellten sich schützend vor die
Juden. Sie rechneten
dem König vor, welch ein großer wirtschaftlicher Schaden für
Preußen entstünde, wenn die Juden aus Schlesien vertrieben würden.
Immerhin spielten die Juden in Schlesien im Handel mit Polen und
Russland eine sehr wichtige Rolle.
Der König begriff, dass die jüdischen Händler ob ihrer guten Auslandsverbindungen nicht durch „christliche“ zu ersetzen waren. Nachdem Schlesien zu Preußen gekommen war, wurde das „Judenwesen“ wie in den anderen preußischen Provinzen der Kriegs – und Domänenkammer unterstellt. Allerdings war für diese Institution in Schlesien nicht das Berliner Generaldirektorium die vorgesetzte Dienststelle, sondern ein Sonderministerium, das unmittelbar dem König unterstand. Von 1770 bis 1807 leitete dieses Sonderministerium Karl Georg Heinrich Graf von Hoym (1739 – 1808), ein aufgeklärter, weltmännischer und gescheiter Mann. Er versuchte, das „Judenproblem“, das in Schlesien besonders kompliziert war, auf geschickte Weise zu lösen. 6 Immerhin exportierten polnische Handelsjuden im Jahre 1784 preußische Produkte im Wert von 508.603 Talern nach Polen und Russland. Kein Wunder, dass die Juden in Schlesien nicht nur „geduldet“, sondern sogar „beneficiert“ (Wohltaten erweisen) werden sollen. Graf Hoym erließ 1790 die „Vorschrift, wie es künftig mit dem Judenwesen in Schlesien zu halten sey“. Durch diese Vorschrift war es den Juden in Schlesien möglich, mehr Berufe zu ergreifen, als sonst in Preußen möglich.7 Durch diese klugen ökonomischen und sozialen Maßnahmen vervierfachten sich die Steuereinnahmen in Schlesien. Mithin hatten die Juden in Schlesien etwas bessere Möglichkeiten zu leben und zu arbeiten als in den anderen preußischen Provinzen. Aber erst die „Grundrechte des deutschen Volkes“ vom 27. 12. 1848 brachten auch den schlesischen Juden die volle Gleichberechtigung. Nun war es ihnen möglich, Immobilien und Grundbesitz zu erwerben.
Joachim (abgeleitet vom hebräischen Jojachin oder Jojakim) Kempner (1803 – 1866), war bis zum Jahre 1844 Gutspächter beim Grafen Alexander von Maltzahn (Kammerherr und Oberst a.D., Erbherr von Wieruszew und Opatow). Kempner heiratete eine Dorothea, geb. Sternberg. Nach dem Tode seiner Frau Dorothea heiratete Joachim Kempner Maria Aschkenasy, die Tochter des Wiener Bankiers und Handelsmannes Israel Aschkenasy und seiner Frau Debora. 8 Dieser Ehe entstammen fünf Kinder.9
Tochter Friederike, das zweite Kind der Familie, wurde am 25. Juni 1828 in Opatow geboren. Einige Biografen geben das Jahr 1836 als ihr Geburtsjahr an. Der Grund dafür ist, dass sie sich in ihrer Lebensbeschreibung, die sie 1884 in einem Schulheft auf 64 Seiten niederschrieb, um 8 Jahr jünger machte, denn darin nennt sie 1836 als Jahr ihrer Geburt. 10 Im Totenbuch des Krematoriums in Gotha vom Jahr 1904 wird das bestätigt, denn da findet sich unter der Nummer 3262 der Eintrag, dass „Friederike Klempner von Friedrichshof (statt Friederikenhof) aus dem Kreis Hanstau (statt Namslau) Niederschlesien, ledig, 67 Jahre alt, am 2.3.1904 um 12.00 Uhr eingeäschert“ wurde. Auf ihrer Urne und auf der Tafel am Grabmal der Familie Kempner in Breslau dagegen wird 1828 als Geburtsjahr der Friederike angegeben.11 Der Grund ihrer „Verjüngung“ ist nicht bekannt. Darüber kann man nur spekulieren. Als es nun auch Juden möglich war, Immoblien und Ländereien zu erwerben, kaufte Vater Joachim das Gut Riemberg, das zur Gemeinde Droschkau (heute Droszkow) gehörte, ein Dorf am Fuße des Reichensteiner Gebirges.
Droschkau
Gott im Himmel, sei gnädig,
Diese Wiesen, diese Felder,
Schütze
dieses Dorf! Dieses stille Tal,
Schütze
diese grünen Auen,
Diese dunklen Fichtenwälder,
Diesen
Moor und Torf. Sängers Ideal! -
Als Gutsbesitzer war die Familie Kempner dem Ziel, sich zu integrieren und zur Elite Preußens zu gehören, ein ganzes Stück nähergekommen. Friederike und ihre Geschwister wuchsen in einem wohlhabenden Ambiente auf. Die Kinder wurden von einem Hauslehrer und von der Mutter unterrichtet. Die stammte aus einer begüterten Wiener Familie. Durch das am 02. 11. 1782 von Kaiser Joseph II (1741 – 1790), Sohn der Kaiserin Maria Theresia, verabschiedete Toleranzpatent erhielt auch die Familie Aschkenasy (wie alle begüterten Juden) in Wien lang ersehnte Rechte (u. a. Religionsfreiheit, Wegfall der diskriminierenden Kleidervorschriften, freie Berufswahl, die Möglichkeit, an einer Universität zu studieren). Des Kaisers Absicht war, aus den Juden „Nützliche Bürger des Landes“ zu machen und sie in die Gesellschaft zu integrieren. Das Toleranzpatent wurde vor allem von Vertretern der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, begrüßt. Mutter Maria, ganz im Geiste dieser jüdischen Aufklärung aufgewachsen, erzog auch ihre Kinder im Sinne der Haskalah. 12 Sie erteilte ihnen Unterricht in Geschichte, Religion und französischer Literatur. Doch Friederikes Allgemeinbildung waren Grenzen gesetzt, wie folgendes Gedicht über Kanada zeigt:
Kennst
Du das Land
Wo
die Lianen blüh’n
Und
himmelhoch
Sich
rankt des Urwalds Grün?
Wo
Niagara aus dem Felsen bricht,
Und
Sonnenglut den freien Scheitel sticht?
In ihren Kreisen legte man auf die Bildung der Mädchen nicht allzu großen Wert. Die wurden ja schließlich verheiratet und hatten dann vor allem als „gnädige Frau“ die Dienerschaft des Hauses zu beaufsichtigen und dem Hausherrn zu Diensten zu sein. Gegen die Beschäftigung mit Reimen und Gedichten war aber nichts einzuwenden. Dazu wurde Friederike sogar von den Eltern ermutigt, denn eine dichtende Tochter erfreute sich in vornehmen Kreisen besonderer Anerkennung. Mutter Maria engagierte sich ganz besonders in der Armenpflege. Tochter Friederike, die ihre Mutter ein Leben lang in besonderer Weise verehrte, begleitete diese schon als Kind bei Krankenbesuchen im Dorf. Die caritativen Tätigkeiten der Mutter führte Friederike nach deren Tod fort. Im Jahr 1866 verstarb Friederikes Vater. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kempners verschlechterten sich danach dramatisch, die Familie war schließlich gezwungen, das Gut zu verkaufen. Franziskas Mutter konnte diesen Verlust nicht verwinden. Zwei Jahre nach ihrem Mann verstarb auch sie. Unter dem Tod ihrer Mutter hat Friederike Zeit ihres Lebens gelitten. Nach deren Ableben hat sie fast 10 Jahre lang kein Gedicht veröffentlicht.. Und in ihren späteren Arbeiten wird immer wieder deutlich, wie sie die Mutter vermisst:
Ach,
meine Mutter, fänd‘ ich Dich wieder –
Ach,
in der Welten unendlichen Raum,
So
würd‘ ich Dich suchen mit allen Kräften,
Wie
jetzt ich Dich suche im Wachen und Traum.
Friederike
hat nie geheiratet. 1867 zieht sie auf ihr eigenes Gut Friederikenhof bei
Reichthal im Kreis Namslau in Schlesien. Dort lebt sie als
Philanthropin und Helferin
der Armen mit ihren Blumen und Büchern. Friederike Kempner widmet
sich mit großem Engagement den Nöten und Problemen ihrer Zeit. Sie
tut das mit einer recht fortschrittlich liberalen Einstellung. Mögen
auch manche ihrer Verse, mit denen sie auf Missstände und inhumane
Gegebenheiten hinweist, formal nicht gerade geglückt sein, eines
kann man nicht bestreiten, sie wurden mit Engagement und Mitgefühl
geschrieben. 1869
besucht sie den Pastor Hermann Wilhelm Boedeker (1799 – 1875) in Hannover,
der als Spiritus Rector zahlreicher sozialer Stiftungen und als
Gründer einer
Kinderheilanstalt bekannt geworden ist. Er gilt auch als Initiator
des Tierschutzvereins.
Unter
dem Eindruck ihres Besuchs in Hannover veröffentlicht sie 1870 die
Schrift „Hermann
Wilhelm Boedecker. Ein Vorbild für viele, welche könnten, wenn sie
wollten.“
In
ihrer Streitschrift „Das Büchlein vom Menschenrecht“ (1885)
beschreibt sie das Ideal
einer durch und durch humanen Gesellschaft, in der die Gleichheit
aller Menschen
und die Unverletzlichkeit der Menschenwürde selbstverständlich
sind. Mit
diesen Überlegungen ist die Kempner ihrer Zeit weit voraus! Der
Staat hat, so
die Autorin, für eine ausreichende Ernährung, für menschenwürdige Wohnverhältnisse
und für eine humane Erziehung zu sorgen und feste Arbeitsplätze zu
garantieren. Die Todesstrafe muss abgeschafft und für eine
vorbeugende Verbrechensbekämpfung Sorge getragen werden. Durch
die Betreuung von Kranken und Sterbenden wurde Friederike schon in jungen
Jahren mit dem Problem Sterben und Tod konfrontiert. Vor allem die
Frage, ob
ein Mensch, der auf Grund der Leichenschau für tot erklärt wird
auch wirklich leblos
ist, bewegt Friederike mehr und mehr. (Mit ihrer Angst vor dem
Scheintod war sie nicht allein. Im 19. Jahrhundert hat dieses Problem
viele Menschen beschäftigt. Selbst in medizinischen
Fachzeitschriften wurde dieses Thema immer wieder diskutiert.
Skurrile Berichte über Scheintote, die sich bemerkbar machten, am
Sargdeckel kratzten oder ihren Särgen entstiegen, wurden immer
wieder kolportiert. Längst war deswegen die offene Aufbahrung
Vorschrift und jeder Verstorbener
durfte erst 48 Stunden nach seinem Ableben bestattet werden.
Doch auch diese Vorschriften konnten vielen Menschen die Angst vor
dem Scheintod nicht nehmen.)
Der
Scheintote
Und
er schlief und schlief so lange,
Daß
ihn keine Macht mehr weckte –
Unsichtbar
beim Grabgesange
Sich
der Totgeglaubte streckte.
Bereits im Jahr 1850 beginnt Friederike Kempner ihren Kampf gegen den Scheintod. Sie kann bekannte Persönlichkeiten und ernsthafte Wissenschaftler wie den Botaniker Christian Gottfried Nees van Esenbeck für ihre Sache gewinnen. Sie selbst lässt bereits 1853 in Droschkau ein Leichenhaus bauen, in dem – wie man sich erzählte - sogar eine Klingelleitung vorhanden war, damit sich ein Scheintoter bemerkbar machen konnte. 13 1854 veröffentlicht sie ihre „Denkschrift über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Leichenhäusern“. Die Leopoldinisch – Karolinische Akademie der Naturforscher ernennt sie für diese Schrift sogar zum Mitglied. Weil sie aber noch so jung ist, lehnt sie die Mitgliedschaft ab. Diese ihre Schrift soll aber Wilhelm I. dazu bewogen haben, die Errichtung von Leichenhäusern und die Bestattung der Toten erst fünf Tage nach deren Ableben anzuordnen.
In der Schrift „Gegen die Einzelhaft oder das Zellengefängnis.“ (1869) tritt sie gegen die Einzelhaft lebenslänglich verurteilter Straftäter ein. Es war damals allgemein üblich, dass Schwerverbrecher, die zu lebenslänglicher Haft verurteilt waren, in Einzelhaft leben mussten. Die Kempner protestiert gegen die inhumanen Haftbedingungen, engagiert sich für eine Gefängnisreform und verlangt:
„ Der Staat soll die Gesellschaft vor Verbrechern schützen, soviel es thunlich ist, aber er hat nicht das Recht, raffinierte Grausamkeit an ihnen zu begehen oder Seelen – Experimente zu machen.“ 14
Ebenso engagiert wendet sie sich gegen die Vivisektion (lat. vivus = lebend, sectio = Operation), dem Eingriff am lebenden Tier zu wissenschaftlichen Versuchszwecken. (Im 19. Jahrhundert hielt man die grausamen Experimente, Operationen oder sonstige Eingriffe an unbetäubten Tieren für notwendig und geboten, um auf diese Weise Erkenntnisse für die Humanmedizin zu erlangen.) In ihrem Buch „Ein Wort in harter Zeit“ (1899) mahnt sie zu Toleranz und positioniert sich gegen den aufkommenden Antisemitismus. (Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wuchs der Antisemitismus in Deutschland deutlich. Ein Grund dafür war die (völlig unbegründete) Angst der Nichtjuden vor einer jüdischen Überfremdung. Ein weiterer Grund war der, dass man die Juden (zu Unrecht) verantwortlich für die sozialen Missstände in den Städten machte, die mit der Industrialisierung einhergingen. In Berlin gründete darum der Oberhofprediger Adolf Stöcker (1835 – 1909) die sog. „Berliner Bewegung“, die mit antisemitischer Propaganda besonders um Zustimmung des Mittelstandes warb.) In „Ein Wort in harter Zeit“ weist die Kempner darauf hin, dass das Christentum seine Wurzeln ja im Judentum hat. Sie schreibt unter anderem: „Hierbei drängt sich unwillkürlich der Wahn des Antisemitismus auf: War der Apostel Paulus nicht ein Semit?“ Am 5. März 1893 erscheint, nachdem bei der Reichstagswahl die Partei der Antisemiten große Gewinne verzeichnen konnten, ihr Gedicht „Antisemitismus“ in der „Breslauer Zeitung“. Allein die folgenden zwei Strophen daraus zeigen ihre tiefe Betroffenheit:
Antisemitismus,
Psalmen sind semitisch,
Wißt
ihr, wie das klingt? Zehn Gebote auch,
Als
wenn unter Psalmen Schöne Sonntagsfeier
Einen
Fluch man singt; Ursemitischer Brauch; 15
Nicht
ihre Gedichte, die sie so bekannt machten, hat sie zuerst
veröffentlich, sondern
Theaterstücke. Bereits 1850 schrieb sie die Tragödie „Berenize“,
die zehn Jahre später erschien. Das Trauerspiel „Rudolf II. oder
der Majestätsbrief“ ist das einzige ihrer Bühnenstücke, das auch
den Weg auf die Bühne fand. 1873 wurde das Drama im Stadttheater
Berlin mit Erfolg aufgeführt und ein Jahr später ebenso erfolgreich
im Lobetheater der Stadt Breslau. Sie hatte es dem Klassischen
Philologen und Altertumsforscher August Boeckh (1785 – 1867)
gewidmet, mit dem sie in regem Briefwechsel stand. Solch öffentliche
Anerkennung waren dem Trauerspiel „Antigonos“ (1880), dem Drama
„Jahel“ (1886) und auch dem Lustspiel „Der faule Fleck im
Staate Dänemark“ (1888) nicht vergönnt.
Von
ihren Novellen seien hier nur genannt: „Nettelbeck oder Patriot und
Kosmopolit“ (1868), „Miss Maria Brown“ (1893, „In der
goldenen Gans“ (1898)und
„Eine Frage Friedrichs des Großen“ (1898). Noch
heute gern gelesen, zitiert und parodiert werden allerdings die
Gedichte der Friederike
Kempner. Im Vorwort zur 7. Auflage ihres Gedichtbandes schildert
sie, wie sie 1850 ihrem Idol und väterlichen Freund, dem Botaniker
und Demokraten der Revolution 1848/49, Professor Dr. Christian
Gottfried Nees van Esenbeck zaghaft und verlegen ihre Gedichte
übergibt und ihn um ein Urteil darüber bittet, ob sie wirklich eine
Dichterin sei. 16 Mit
Nees van Esenbeck verband sie eine innige Brieffreundschaft.
Aus der Zeit von 1850 bis 1858 sind zirka 100 Briefe von Nees an
Friedrike erhalten geblieben. Da sie keinen Verlag findet, der ihre
Gedichte veröffentlichen will, erscheint 1873 ihre erste
Gedichtsammlung im Selbstverlag , doch das Interesse der Leser hielt
sich sehr in Grenzen.
Lange Zeit erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, der Familie Kempner seien die Gedichte ihrer Tante Friederike so peinlich gewesen, dass sie versucht habe, alle neuen Bücher der „Schlesischen Nachtigall“ , wie man die Dichterin auf Friederikenhof nannte, aufzukaufen, ehe andere sie lesen konnten. Dies aber bewirkte nur - wie das in der Geschäftswelt so ist - sofortige Nachauflagen. Die alle aufzukaufen wäre der Rittergutsfamilie allerdings nicht möglich gewesen. Weit über ihre schlesische Heimat hinaus bekannt wird Friederike Kempner erst durch den Berliner Theaterintendanten und Kritiker Paul Lindau (1839 – 1919), der in seiner Zeitschrift „Die Gegenwart“ eine fast böse, höchst ironische Rezension über die Gedichte der Kempner schreibt. Und plötzlich gibt es Leser, die ungeduldig auf neue Gedichte der „Schlesischen Nachtigall“ warten und sich unbändig über die unfreiwillige Komik der Kempnerschen Gedichte amüsieren.
Das Fräulein auf Friederikenhof will allerdings um nichts in der Welt ulkige Gedichte schreiben. Es sind ernsthafte Themen, deren sie sich in Reimform annimmt. Als Beispiel dafür ihr Gedicht „Leipziger Lerchen“:
Die
lieblichen Sänger des Feldes
Die Lerche, die wahre Poetin,
Ach,
nackt und zum Fraße bereit,
Zum Himmel sich schwingend hinauf,
Ihr
werdet doch Lerchen nicht essen?
Ihr Nestlein ach sorglos am
Boden,
Mein
Gott, ihr wär‘t nicht gescheit!
Die
Senner, sie treten darauf.
Allein
der Bauer vom Lande,
Er
hat ein natürliches Herz, -
Mit
Schonung schwingt er die Sense, -
In Leipzig aber da schlachten
Die singenden Kehlchen sie,
Ach,
nackt und zart zum Erbarmen -
Die
Sense von Stahl und Erz.
Ein Schlachten der Poesie!
(Im 18. und 19. Jahrhundert gehörten gefüllte Lerchen zu den kulinarischen Köstlichkeiten der Messestadt Leipzig. Allein im Oktober des Jahres 1729 sollen in den Auen um Leipzig 404.340 Lerchen gefangen und verspeist worden sein. 17 Im Leipziger Kochbuch von 1745 findet sich sogar ein Rezept zur Zubereitung dieser Singvögel. Erst im Jahr 1876 wurde der Lerchenfang in Sachsen von König Albert I. verboten. Die Leipziger Bäcker haben als Ersatz ein Gebäck kreiert, das sie Leipziger Lerchen nannten. Vergleiche dazu: http://www.leipzig-lese.de/index.php?article_id=32... )
Ihre Gedichte – sowie auch das von den Leipziger Lerchen - wirken naiv und kindlich. Ein Grund dafür ist, dass sich die Dichterin vor allem vom Metrum bestimmen lässt. Wenn ihr Wörter, die für den rhythmischen Verlauf gut geeignet wären, nicht einfallen, kürzt oder verlängert sie die ihr zur Verfügung stehenden Wörter in naiver und mitunter auch grausamer Weise so, dass zwar der Rhythmus stimmt, aber alle Gesetze der Rechtschreibung und Grammatik außen vor bleiben. Ein weiterer Grund besteht darin, dass sie immer wieder unvermittelt vom Erhabenen zum Banalen wechselt, was dem Leser manchmal richtig wehtut. Gerhard Herrmann Mostar, der die Kempner als „Genie der unfreiwilligen Komik“ apostrophierte, merkt an: „ihr Trick besteht darin, dass sie gerade dort einen Fehler macht, wo es leichter wäre, richtig zu dichten.“ 18 Der Lyriker Robert Gernhardt (1937 – 2006) bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt:
„Schlechte Gedichte müssen außerordentlich gut sein, um komisch zu wirken. Denn das eigentlich Komische stellt sich erst ein, wenn die Erwartung des Lesers unterlaufen wird, es lebt von der Regelverletzung. Egal, ob sie mit Absicht oder unfreiwillig ins Werk gesetzt wird. Und gerade, wenn sie haarscharf daneben haut, ist die Kempner unwiderstehlich“. 19
Dafür
zwei eindrückliche Beispiele:
(a)
Von der Decke bis zur Diele
(b)
Kränk‘ Dich nicht,
Muß
der Schweiß herunter rinnen,
Gräm‘ Dich nicht,
Willst
gelangen
Du zum Ziele,
Plötzlich scheinet Sonnenlicht,
Wohlverdienten
Preis gewinnen.
Auch die Finsternis wird hell,
Auch
das Glück – es schreitet schnell –
Und
verstummt ist das Gebell!
Bald jedoch parodierte man die Gedichte der Kempner, verbreitete diese Parodien, und oft blieb deren Verfasser unbekannt. Darum ist es heute manchmal schwierig, dieses oder jenes Gedicht der Kempner eindeutig zuzuordnen. Hier nun zwei Beispiele, die wirklich nicht aus Friederikes Feder stammen:
(a)
Johannes Keppler
(b)
Letzte Mahnung
Du
sähest herrliche Gesichte
Und wenn ich dereinst‘ mal sterbe,
In
finstrer Nacht, mahnet
Euch der Musen Chor,
Ein
ganzes Blatt der Weltgeschichte:
Nicht enthaltet dieses Erbe
Du
hast es vollgemacht!
Euren Nachekommen vor.
Ab
ihrer zweiten Lebenshälfte hat sie nur noch mit wenigen Menschen
Kontakt. Sie lebt zurückgezogen auf ihrem Gut Friederikenhof, das
Inspektor Sambale für sie verwaltet. Durch ein Augenleiden erblindet
sie nahezu. In Folge eines Schlaganfalls verstirbt Friedrike Kempner
, die schlesische Nachtigall, am 23. Februar 1904. Nach der
Einäscherung wird ihre Urne in der Familiengruft der Familie Kempner
an der Südmauer des 1856 eröffneten jüdischen Friedhofs an der
Lohestraße (ul. Slezna) in Breslau beigesetzt. In der Grabinschrift
heißt es :
„... Ihr Leben war geistiger Arbeit und Werken der
Nächstenliebe gewidmet.“
Gehabt
euch wohl, Gott segne euch,
Euch
alle im Sonnenlicht,
Dich
Vöglein, Röslein, Immergrün,
Die
Dornen und die – Würmer nicht! -20
Anmerkungen
1 Zahlreiche Biografen bestreiten die Verwandtschaft Kerrs mit Friederike Kempner, Folgt man jedoch bei Genealogy- Geni den Angaben zu den Enkeln und Urenkeln des „Reb LeibKempner“, ist Alfred Kerr der Sohn von Friederikes Halbbruder Meyer Emanuel Kempner (1826 – 1900)
2 BoD Autorenpool, Das Forum für Autoren, Eine Betrachtung über Friederike Kempner, 17.01.2010
3 Genealogy - Geni: Israel Aschkenasy (1770 – d)
4 Genealogy - Geni
5 A. Herzig, Landjuden – Stadtjuden, Die Entwicklung in den preußischen Provinzen Westfalen und Schlesien im 18. und 19. Jahrhundert, S. 91 – 108 in: Richarz und Rürup (Hsgb.) Studien zur deutsch – jüdischen Geschichte, Mohr, 1997
6 S. Stern, Der preußische Staat und die Juden, Dritter Teil/Die Zeit Friedrich des Großen, Erste Abteilung, Mohr, Tübingen, 1971, S. 33
7 A. Herzig, S. 99f
8 Weil man die Enteignung und Zerstörung des alten und bereits geschlossenen jüdischen Friedhofs in Wien befürchtete, wurden 1941 127 Personen exhumiert und auf dem Wiener Zentralfriedhof erneut bestattet, darunter war am 24. 11. der Leichnam des am 22. 06. 1839 verstorbenen Israel Aschkenasy, Handelsmann und Rabbiner aus Brody. Er wurde am 27. 11. 1941 in Grab 15 wiederbestattet. Der Leichnam seiner einen Monat nach ihm verstorbenen Frau wurde nicht gefunden, obwohl ihr Name auf dem Grabstein ihres Gatten verzeichnet war. (Mag. Wolf – Erich Eckstein, Dominikanerg. 7/3/7, 1060 Wien)
9 David (18 Jahre lang Stadtverordneter in Breslau), Isidor (aktiver Demokrat in den Jahren 1848/49), Helene, verheiratet mit Bernhard Selten (der stiftete mit seinem Bruder das Kreiskrankenhaus seiner Geburtsstadt Lublinitz) und Tochter Luise, verheiratete Stadthagen.
10 cbuecherkiste.de/f- k-leben-und-werk
11 38 Vorwort www. namslau – schlesien.de /S. 34 pdf
12 Wegbereiter der Haskalah war der Philosoph und Aufklärer Moses Mendelssohn (1729 – 1786). Die Makilim, die Befürworter der Haskalah, strebten die Vereinbarkeit einer erneuerten Religiosität des Judentums mit dem Vernunftdenken der Aufklärung und der wissenschaftlichen Rationalität an. Erziehung und Unterricht müssen dem Anliegen der Aufklärung verpflichtet sein. Darum ist der Einfluss der Rabbiner zu begrenzen. Die Sitten und Gebräuche der Juden sollten sich denen der Nichtjuden annähern. Auf diese Weise können die Juden aus dem religiösen Ghetto herausgeführt und in die übrige Gesellschaft integriert werden. Die Gedanken der europäischen Aufklärung sollen Eingang ins Judentum finden. Nicht unwichtig war den Maskilim (Befürworter der Haskalah) der Kampf gegen den „Jargon“ (gemeint ist die jiddische Sprache, das sog. Jüdeln). Vor allem sollte die soziale Wirklichkeit stärker in den Blick genommen werden (Marie Schumacher – Brunhes, Aufklärung im jüdischen Stil: Die Haskalah - Bewegung in Europa, Europäische Geschichte Onlin, 13. 03. 2010)
13 38 Vorwort..., www.namslau-schlesien.de/s.34pdf
14 38 Vorwort...,www.namslau-schlesien.de/s.34pdf, S.48
15 Text im Projekt Gutenberg-DE, Friederike Kempner, Kapitel 360
16 Vorwort zur 7. Auflage 1894 in: Achte verm. Auflage, Berlin ,o. J. (1903)
17 U. Brekle, Leipziger Lerchen, in www.leipzig-lese.de , unter Kulinarisches
18 Mostar, Gerh., Herm., Das Genie der unfreiwilligen Komik, Friederike Kempner, der schlesische Schwan, München, DTV, 1965
19 Marginalien zur Geschichte: Friederike Kempner – der Schlesische Schwan, in: Thüringer Landeszeitung 22. 06. 2016
20 Alle Gedichte der Kempner zitiert nach „Gedichte der Friederike Kempner“ in: Die Deutsche Gedichtebibliothek, Gesamtverzeichnis deutschsprachiger Gedichte