Zu den bekanntesten Studenten der Leipziger Nachkriegsgeneration zählt Wolfgang Natonek. Sein politisch couragiertes Auftreten war nicht nur für Leipzig bestimmend, es erzeugte über Sachsen und die Grenzen der Sowjetischen Besatzungszone hinaus Wirkungen.
Bereits von früh an wurde er zur kritischen Distanz gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern erzogen. Sein Vater Hans Natonek (1892-1963) war in Leipzig ein bekannter Schriftsteller und Journalist, der für die Neue Leipziger Zeitung schrieb. 1933 wurde er aus politischen Gründen entlassen, verlor seine Arbeitsmöglichkeiten und später auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Vor den politischen Zuständen in seiner Heimat floh Hans Natonek zunächst nach Prag und emigrierte später gerade noch rechtzeitig aus Europa in die USA.
Für Wolfgang Natonek wurden diese Erlebnisse zu einem prägenden Teil seiner Jugend. Am 3. Oktober 1919 in Leipzig geboren, legte er 1938 das Abitur an der Petri-Schule ab und begann zunächst für zwei Semester Veterinärmedizin zu studieren, bis er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Selbst an der Front holte ihn seine Herkunft wieder ein: die Ausbürgerung seines Vaters bedeutet auch für ihn den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit und 1941 wird Natonek aus der Wehrmacht als „staatenlos und wehrunwürdig" entlassen. Bis zum Kriegsende kann er sich als Hilfsarbeiter in einem Leipziger Kleinbetrieb durchschlagen und hat dort auch Kontakte zu Zwangsarbeitern, denen er nach Kräften hilft.
Der Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 eröffnet ihm wieder eine Perspektive. Politisch beginnt er sich in der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) zu engagieren und schreibt sich nach der Neueröffnung der Universität Leipzig im Februar 1946 für ein Germanistikstudium ein.
Seinen politischen Überzeugungen folgend, tritt er als Kandidat für die Studentenratswahlen im Februar 1946 an. Die LDP ging als stärkste politische Kraft aus diesen Wahlen hervor und Natonek avancierte zum Vorsitzenden des Studentenrates. In scharfen, vorerst noch rhetorischen Auseinandersetzungen musste er sich von nun an gegenüber seinen politischen Gegnern behaupten. Häufig wurde er in der Presse angegriffen, doch Natoneks Reden und Entgegnungen zeugten nicht nur von seiner hohen politischen Moral, sondern auch von der Hoffnung, die er auf den demokratischen Neubeginn setzte. Auf integren Personen, wie Natonek oder Werner Ihmels (*1926, von einem sowjetischen Militärtribunal wegen falscher Anschuldigungen verurteilt und 1949 im sowjetischen Speziallager Bautzen verstorben) ruhten die Hoffnungen einer ganzen Studentengeneration. Ihre aufrechte Gesinnung diente den nachfolgenden, zumeist in den nichtöffentlichen Protest gezwungenen Studenten wie Herbert Belter (*1929, von einem sowjetischen Militärtribunal wegen falscher Anschuldigungen zum Tod verurteilt und 1951 bei Moskau erschossen) oder Gerhard Rybka (*1922, von einem sowjetischen Militärtribunal wegen falscher Anschuldigungen zum Tod verurteilt und 1951 bei Moskau erschossen) als Vorbild beim Ringen um den demokratischen Wiederaufbau.
Konfliktlinien, speziell zum einzuschlagenden Weg des demokratischen Wiederaufbaus, gab es dabei genug. Noch vor der Wiedereröffnung der Universität erschien am 3. Februar 1946 ein Aufruf des demokratischen Blocks der antifaschistischen Parteien, dessen Ausformung und Umsetzung die politischen Differenzen in der Universität bis ins Jahr 1949 erheblich verschärfte. Es war die Losung „Arbeiterstudenten auf die Universität", eingebracht auf Initiative der KPD und SPD, die den hochschulpolitischen Kurs in Leipzig wesentlich präjudizierte. Während die Meinung über die Berechtigung eines solchen Vorhabens anfangs nahezu einhellig positiv war, entfachten sich jedoch die Kontroversen bei der bevorzugten Zulassung der Arbeiterstudenten auf die wenigen Studienplätze und um die Ansiedlung der Vorstudienanstalten und deren Hörervertretung an der Universität. Beide Maßnahmen sicherten der SED kurzfristig einen erheblichen Stimmenzuwachs unter den Studenten und langfristig eine Kaderreserve politisch loyaler Hochschulabsolventen.
Gerade unter den harten Nachkriegsbedingungen gab es schon genug Probleme, denn Unterkunft, Heizung, Strom und Verpflegung waren in einer zerstörten Stadt nur schwer zu beschaffen. Hinzu kamen noch die Verhältnisse an der zu zwei Dritteln ausgebombten Universität: fehlende Räumlichkeiten für den Lehrbetrieb, geringer Bücherbestand und mangelnde personelle Besetzung der Lehrstühle. Daraus erwuchs ein sowohl solidarisierendes wie politisierendes Moment. Die meisten dieser Schwierigkeiten waren von dem einzelnen Studenten nicht oder nur unzureichend zu bewältigen. Der Studentenrat besaß damit eine wichtige integrative Funktion. Nur mit seiner Hilfe konnten die immensen Alltagsprobleme gelöst werden. Die älteren Studenten versuchten ihr Studium ohnehin so schnell wie möglich zu beenden, um die durch den Krieg verlorene Zeit nicht noch weiter auszudehnen. Durch die Härten und Erfahrungen der Kriegserlebnisse waren sie kaum mit einer Studentengeneration vor ihnen vergleichbar. Dagegen sahen die jüngeren Studenten, die 1945 oder später ihr Abitur bestanden hatten, in diesem Studentenrat einen Gestaltungsspielraum und erlebten das für sie ungewohnte Spiel der freien Kräfte - in freizügiger Weise diskutierten sie politische Fragen um der angestrebten Lösungen, nicht um ihrer selbst willen.
Die Bevorzugung von Arbeiter- und Bauernkindern bei der Zulassung zum Studium führte in emotional geprägten Diskussionen zu heftigen Kontroversen. Dabei war Natonek zu dieser Frage grundsätzlich positiv eingestellt. Er sah aber auch die Gefahren, die sich aus einer einseitigen Bevorzugung ergaben: „Wir haben den Wunsch, an den Arbeiterstudenten etwas gutzumachen, und würden sie enttäuschen, wenn wir sie auf einem Weg fortschreiten ließen, auf dessen weiterer Vollendung sie anerkennen müssten, dass das Ziel nicht zu erreichen ist... Die Welt sieht heute mit besonders kritischen Augen auf uns, auch auf die Wiedergutmachung an denen, die Opfer des Faschismus sind. Darauf sollen sich auch die besinnen, die murren, weil sie weiter ein Jahr warten müssen... Das gehört mit zu dem Humanitätsgedanken, um dessen Verwirklichung wir heute ringen."
Nach einigen vergeblichen Versuchen seiner politischen Gegner, eine Relegierung Natoneks zu erlangen, wurde er schließlich durch die sowjetische Besatzungsmacht in der Nacht vom 11. zum 12. November 1948 verhaftet. Doch mit der Verhaftung allein war es nicht getan, selbst dem NKWD [Volkskommissariat für Inneres], sonst nicht sehr wählerisch in seinen Anklagekonstrukten, fiel es schwer, Natonek ein strafwürdiges Verhalten nachzuweisen. Dennoch wurde Natonek zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Einen Teil der Strafe verbüßte er in Torgau und Bautzen, nach seiner Entlassung im Jahre 1956 begab er sich kurz nach Leipzig und siedelte dann in die Bundesrepublik Deutschland über.
Im Umfeld Natoneks, und insbesondere unter den bürgerlichen Vertretern des Studentenrates, kam es gleichzeitig zu weiteren Verhaftungen. Am 12. November 1948 marschierten Polizeikolonnen mit Gewehren, hinter Schalmeienkapellen und roten Fahnen durch die Innenstadt - sie demonstrierten öffentlich den neuen Umgang mit den politischen Gegnern der SED in der SBZ. „Die wussten schon alles über uns.", so Walter Nienhagen (1927-2007), einer der Verhafteten. „Von jeder Sitzung unserer Gruppe existierte ein Wortprotokoll, wir waren komplett ausgespitzelt worden." Ein sowjetisches Militärgericht verurteilte Walter Nienhagen im Januar 1950 zu 25 Jahren Arbeitslager und deportierte ihn nach Bautzen. Erst Ende 1956 wurde er entlassen und in den Westen abgeschoben.
Wolfgang Natonek konnte sein Studium in der Bundesrepublik Deutschland, in Göttingen, fortsetzen und war danach als Gymnasiallehrer tätig. 1992 kehrte er das erste Mal nach Leipzig zurück, um an der öffentlichen Immatrikulationsfeier der Universität teilzunehmen. Auf Vorschlag der Universität Leipzig erhält er im gleichen Jahr für seine Verdienste eine Titularprofessur durch den Sächsischen Staatsminister für Wissenschaft und Kunst. Hoch betagt stirbt Wolfgang Natonek im Jahre 1994 in Göttingen.
Bereits 1996 widmete die Universität Leipzig ihren aus politischen Gründen ermordeten, verschleppten und teilweise in der Haft verstorbenen Studenten und Angehörigen eine Ausstellung. Seit 1996 wird an der Universität Leipzig der Wolfgang-Natonek-Preis an Studenten mit herausragenden Studienleistungen und besonderem Engagement für die Interessen der Universität verliehen.