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Zu Gast in Weimar

George Eliot; deutsche Übersetzung: Nadine Erler

Zu den vielen Künstlern, die es nach Weimar zog, gehörte auch die englische Schriftstellerin George Eliot. Im Sommer 1854 verbrachte sie drei Monate im kleinen, doch weltberühmten Städtchen an der Ilm. George Eliots schriftlich festgehaltenen Eindrücke sind äußerst amüsant. Dieser Blick einer Fremden lässt Weimar in anderem Licht erschienen.

Broschüre, 40 Seiten, 2019


Der Rebell des Erzgebirges

Der Rebell des Erzgebirges

Joseph Roth

Blick vom Geisingberg auf den Kahleberg/Osterzgebirge. Foto: Norbert Kaiser via Wikimedia Commons
Blick vom Geisingberg auf den Kahleberg/Osterzgebirge. Foto: Norbert Kaiser via Wikimedia Commons
Am 24. September 1841 ist Karl Stülpner gestorben. Sein Name, seine Taten, seine tief ethische und antigesetzliche Persönlichkeit leben im Volk des Erzgebirges heute noch frisch und unmittelbar fort, denn seine revolutionäre Kraft war der in einer einzigen Persönlichkeit gesammelte und zum Ausbruch gelangte rebellische Wille der ganzen Bevölkerung.

Karl Stülpner ist der Held vieler sächsischer Marionettenspiele‚ eines »Heldengedichts« von Paul Haar aus Sorau, eines Romans von Eduard Milan, eines bekannter gewordenen Buches von Kurt Arnold Findeisen. Aber keiner dieser Autoren ist seinem Helden gewachsen, der auf einen revolutionären Homer Anspruch erheben könnte.

Karl Stülpner ist der Sohn eines armen Müllerburschen aus Scharfenstein, der's »auf der Brust hat« und früh stirbt. Karl ist der einzige Sohn seiner Mutter. Er wächst im Walde auf, kommt als Zwölfjähriger zum Förster von Ehrenfriedersdorf und wird ein guter Schütze. Zum ersten Mal empfängt er einen revolutionären Impuls: Es ist üblich, dass die Herrschaft, sobald sie Lust zu einem guten Braten verspürt, bei ihrem Förster einen Bock bestellt. Wenn die Herren essen wollen, müssen sich die Diener sofort aufmachen und jagen. Der Förster ist nicht zu Hause, als der Auftrag kommt. Karl Stülpner, der schon so früh weiß, was der Befehl eines Brotgebers bedeutet, geht selbst auf die Jagd, erlegt den Bock und ist mit einem Schuss Jäger und Revolutionär geworden.

Bald holt ihn seine Mutter, die einen >>Verdiener<< braucht, wieder heim. Die Mutter hungert. Karl geht in den Wald. Er bringt reiche Beute. Man ahnt im Dorf, dass Karl wildert. Der Amtsgewaltige des Ortes und der Umgebung ist der Gerichtsdirektor Günther. Er verkörpert den Staat, das Gesetz, die Gesellschaft. Er tut nur seine Pflicht. Er ist der bestellt Jäger. Stülpner ist sein Wild. Wie aber kommt es, dass wir diesen Mann hassen, weil er tut, was er muss. Dass wir ihm seine Tugend nicht verzeihen? Dass wir ihm ein Laster hoch anrechnen würden? Eine Pflichtverletzung? Hier erwacht auch in uns die Rebellion gegen die Sitte, die Ordnung, das Gesetz, die wir selbst geschaffen haben, um vor den Stülpners sicher zu sein. Aber wir sind trotzdem nicht vor ihnen sicher. Ja, wir lieben sie sogar, die wir abzuwehren uns bemühen.

Der Gerichtsdirektor steckt Karl Stülpner zu den Soldaten, zum Train nach Dresden. Karl macht den bayerischen Erbfolgekrieg mit. Die Mutter fährt zum Regiment und erwirkt seine Entlassung. Man holt ihn wieder. Nach Chemnitz, dann zu den Zschopauer Grenadieren. Als Grenadier kann er das Wildern nicht lassen. Er liebt den Wald, und er hasst die Förster. Seine Auflehnung gegen den Gerichtsdirektor, die militärische Maschinerie, die reichen Waldbesitzer äußert sich naiv in einem unwiderstehlichen Zwang zur Wilddieberei. Es ist die einzige aussichtsreiche Form der Empörung. Im Wald ist Stülpner dem Gesetz überlegen.

Das Grab Karl Stülpners auf dem Friedhof in Großolbersdorf. Foto: Liesel via Wikimedia Commons.
Das Grab Karl Stülpners auf dem Friedhof in Großolbersdorf. Foto: Liesel via Wikimedia Commons.

Man verhaftet ihn, steckt ihn ins Militärgefängnis. Er kommt nach Mühlberg. Von hier desertiert er und geht über die böhmische Grenze nach Sebastiansberg. Er wird Hausknecht in einem Gasthof, später Forstadjunkt beim Grafen Rostiz. Ein ungarischer Adliger nimmt ihn nach Debreczin. Hier hat er, der Lutheraner, den Hass der katholischen Bevölkerung zu spüren. Aber es ist noch etwas anderes: Stülpner ist Förster. Man hat den Bock zum Gärtner gemacht. Er soll die Ordnung schützen, gegen die er zu kämpfen bestimmt ist. Er verlässt Ungarn, wandert nach Wien, durch Bayern, die Schweiz, Baden Hessen, Hannover und lässt sich in Osterrode, weil er kein Geld hat, zu den Dragonern anwerben.

Das Militär ist die schärfste Form der fesselnden Gesellschaftsordnung, der offensivste Ausdruck der gewaltsam zusammengehaltenen Gemeinschaft. Karl Stülpner, der geborene Feind jeder Geschlossenheit, desertiert wieder, nach Böhmen, dann nach Hof und schließlich nach Bayreuth. Da sind eben Preußen einmarschiert, Stülpner wird mit Gewalt zu den preußischen Musketieren gesteckt. Er zieht nach Frankreich, trifft vor Verdun einen sterbenden Invaliden, nimmt dessen Pass und desertiert als „lnvalide Paul Matusch". Er kehrt heim, agitiert für die »Menschenfreiheit«, wie sie jenseits des Rheins bestehe, und geht in die Wälder. Er lebt von nun an mit zwei Kumpanen im Wald, in der ganzen Gegend als >>Räuber<< bekannt und gefürchtet, von Militär- und Zivilbehörden verfolgt, von den Armen und Unterdrückten gepriesen, ein Heiliger und ein Wilder, legendarisch schon als Lebender.

Auf der anderen Seite, in der anderen, der friedlichen Welt lebt nur einer, dem Stülpner gefällt: Es ist der österreichische Major von Einsiedel. Der verspricht, sich für Stülpner zu verwenden, und reicht ein Gnadengesuch beim Kurfürsten ein. Allein, das Gnadengesuch wird nicht erledigt. Stülpner wartet die Erledigung bei seiner Mutter ab. Alle wissen, dass er zu Hause ist, niemand zeigt ihn an. Aber der Gerichtsdirektor erfährt es dennoch. Er erscheint an einem späten Novemberabend mit 79 Mann bei der alten Frau Stülpner. Karl ?ieht, die Büttel drohen der alten Frau und schlagen sie, der Sohn kehrt nach Scharfenstein zurück und beschließt, einen Krieg gegen die Behörde zu führen. Er stellt sich mit einem Gewehr in einer Nische des Schlosshofs auf, im Schloss tagt inzwischen das Gericht. Karl Stülpner belagert als einzelner das Schlss. Man ruft Militär herbei, die Soldaten weigern sich, auf ihn zu schießen, und ziehen wieder ab. Ein Jahr später trifft er den Büttel, der die Hausdurchsuchung bei Stülpner geleitet und dessen Mutter geschlagen hat. Stülpner prügelt den Beamten auf offener Landstraße und verlangt vom Gericht, es möge sich verp?ichten, diesen Büttel nie mehr in die Gegend zu schicken, in der er, Stülpner, zu Hause sei. Und das Gericht fügt sich.

Und nun kommt der tragische Bruch in dieses einheitliche Rebellenleben, der Rückfall in die Bürgerlichkeit. Stülpner wird waldmüde. Er will heiraten. Er ist einsam. Seine Kumpane verlassen ihn. Er wendet sich an jene Macht, die das Unmögliche verwirklichen kann: an die Kirche.

Und der Beichtvater des Kurfürsten erwirkt für Stülpner die Begnadigung. Er kehrt zu seinem Chemnitzer Regiment zurück, heiratet, zieht mit den sächsischen Hilfstruppen für Preußen gegen Napoleon, gerät in Gefangenschaft, ?ieht und - desertiert wieder und übernimmt ein Wirtshaus in Böhmen. Nach dem großen Generalpardon für Deserteure (1813) darf er nach Sachsen zurück. Seine Kinder sterben, seine Frau stirbt, Karl Stülpner heiratet noch einmal, zeugt einen Sohn, erblindet am Star und - wird operiert und wieder sehend. Er findet noch Zeit, einem Dorflehrer seine Erinnerungen zu diktieren. Dann stirbt er, und es wird berichtet, dass fünfzehn Dorfgemeinden ihre Arbeit ruhen ließen, um Stülpner das letzte Geleit zu geben. An seinem Grabe weinten alle, die Ausgestoßenen und die Sesshaften, die ewigen Wanderer und die kraftlosen Armen, die ohne Mut in der Enge ersticken.

Auf dem Friedhof zu Großolbersdorf ist er begraben. Das ganze Volk im Erzgebirge liest heute von seinen Taten. Er ist einer der ersten deutschen Revolutionäre, der Vertreter des unbekannten, verkannten und als spießerhaft verschrienen oder gewaltsam zum Spießertum erzogenen deutschen Volkes, das Blut hat und wirkliche Empörer hervorbringt.

Nur dass man sie nicht kennt. Wo sind die Dichter, die sich dieser wirklich deutschen Menschen annehmen? In welche Fernen schweifen Autoren, um Helden zu finden?

Diese Skizze erschien zuerst in der Frankfurter Zeitung  am 27. Mai 1925.

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