Doch: Genau das Colditz. Das Colditz, das in England alle kennen, seit Pat Reid 1952 seinen Bestseller The Colditz Story veröffentlichte. Das Buch wurde verfilmt, es entstanden Dokumentationen und eine äußerst beliebte Fernsehserie der BBC. Der ‚Mythos Colditz' war geboren, und er wirkt bis heute nach - noch 2005 kam der Film „Colditz" in die Kinos (Deutsch „Flucht in die Freiheit"). Aber hier in Deutschland weiß kaum jemand etwas davon.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gerieten viele Soldaten der Westalliierten in deutsche Gefangenschaft. Besonders unter den Offizieren galt es als Ehrensache, alles daran zu setzen, um aus dem Gefangenenlager auszubrechen. Vielen gelang dies auch. Seit dem Herbst 1940 wurde Colditz deshalb als Speziallager für Offiziere („Oflag 4C") eingerichtet. Das Schloss galt nämlich als absolut ausbruchsicher: Einmal wegen seiner Lage auf einem Felsvorsprung über der Mulde, mit nach drei Seiten steil abfallenden Wänden (auf der vierten Seite schützen mehrere Tore und Innenhöfe den Zugang), zum anderen deshalb, weil Colditz ziemlich genau im Mittelpunkt des damaligen Deutschen Reiches lag, so weit von den Grenzen entfernt wie nur irgend möglich.
Womit die Nationalsozialisten nicht gerechnet hatten: Die Offiziere dachten gar nicht daran, ihre Fluchtversuche aufzugeben. Im Gegenteil, sie fingen sofort an, das neue Quartier auf Ausbruchsmöglichkeiten hin zu untersuchen. Und sie waren dabei so erfinderisch und so erfolgreich, dass Colditz unter den Briten den Spitznamen „Escape Academy" bekam: „Hochschule für Ausbrecher". Denn hier waren quasi die Spezialisten zusammen! Briten, Franzosen, Holländer, Belgier, Polen - lauter Offiziere, deren gemeinsames Merkmal darin bestand, dass sie schon Ausbruchsversuche aus anderen Lagern hinter sich hatten. In vier Jahren erlebte Colditz mehr als 300 Ausbruchsversuche, von denen 31 erfolgreich waren, d.h. der Ausbrecher schaffte es bis in sein Heimatland. „Home run" sagten dazu die Briten.
Das darf man sich nun nicht als harmloses „Räuber und Gendarm" - Spiel vorstellen. „Auf der Flucht erschossen" hat nicht umsonst bis heute einen schlimmen Klang, und damals war es bittere Realität. Nicht allein auf Schloss Colditz wurde geschossen, wenn ein Ausbruchsversuch entdeckt wurde, ab 1943 galten flüchtige Kriegsgefangene generell als Spione und konnten ohne Umstände erschossen werden. Dennoch ließen sich die auf Colditz eingesperrten Offiziere immer wieder etwas Neues einfallen - bergmännisch angelegte Fluchtstollen, Flucht in Verkleidung, Flucht beim (selbstverständlich strengstens bewachten) Freigang, bis hin zur heimlichen Konstruktion eines kleinen Segelflugzeugs, das, wie später ein Nachbau demonstrierte, durchaus flugfähig gewesen wäre. Als bekannt wurde, dass nach einem Ausbruchsversuch aus einem anderen Lager (Stalag III bei ?aga?/Sagan in Polen) im März 1944 fünfzig der flüchtigen Gefangenen erschossen wurden, kam das Flugzeug zwar nicht mehr zum Einsatz, wurde aber für den absoluten Notfall bereit gehalten. Die amerikanischen Soldaten, die das Lager im April 1945 befreiten, trauten ihren Augen nicht.
Natürlich kann hier nicht die ganze Geschichte von Colditz erzählt werden. Aber sie ist heute noch vor Ort zu besichtigen und nicht nur für Briten spannend. Deshalb: Wenn Sie einmal in der Gegend sind, dann nehmen Sie sich doch ein wenig Zeit für Schloss Colditz und sein Fluchtmuseum. Sie werden staunen!
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Literatur:
http://www.schloss-colditz.com/
(auch mit Informationen über die nahezu tausendjährige Geschichte des Schlosses)
http://burgerbe.wordpress.com/2008/09/09/der-geheime-segelflieger-der-gefangenen-von-schloss-colditz/
(Näheres zum Segelflugzeug, aber auch mit Informationen zu Historie des Schlosses)
http://en.wikipedia.org/wiki/Pat_Reid
(auf Englisch)
Regina Thiede, Renate Lippmann: Schloss Colditz. Edition Leipzig, Leipzig: 2007