Ein altes Mütterchen von siebzig Jahren,
Die meist in schwerer Arbeit sie verbracht.
Die Stirn verdeckt mit silberweißen Haaren,
Von Sorg und Kummer früh schon bleich gemacht,
Steht keuchend an ein hohes Haus gelehnt,
ein Reisigkorb dicht vor ihr auf dem Stein.
Sie seufzt: Wer ew‘ge Ruh sich ersehnt,
Kannst dem, o Herr, du wirklich böse sein?
Was hab‘ ich auf der Welt noch? Nichts als Sorgen.
Ja, früher war‘s wohl anders. O, mein Sohn!
Jetzt folgt dem trüben Heut das trübe Morgen,
Ständ ich mit die, mein Kind, vor Gottes Thron!
Selbst trochnes Brot zu schaffen fehlt die Kraft,
Denn hilflos Alter weist man stets zurück,
Wo für Geringes blüh‘nde Jugend schafft,
Mit dir, mein Sohn, versank mein Erdenglück.
Hier rinnt der heißen Zähren reicher Zoll
Der Alten übers faltige Gesicht.
An ihr vorüber hastet unruhvoll
Im Dienst der hundertfält‘gen Tagespflicht
Die Alltagsmenge. Seinem eignen Ziel
Strebt jeder zu. Die Alte trifft kein Blick.
Und träf er sie, was kümmert wohl viel
Der Eifrigen der Armen Mißgeschick?
Ach, wie sie jetzt umsonst sich ängstlich müht,
Den Korb zum Rücken wieder zu erheben!
Das blasse runzliche Gesicht erglüht,
Die welken Hände zittern ihr und beben.
Da kommen übern Platz – der Neumarkt war‘s
In Sachsens Residenz – jodelnd herumtelefoniert
Zwei Knaben, und der ältere des Paars,
Langaufgeschossen, fast kein Knabe mehr,
Stellt vor die Alte sich hin und höhnt: „Eu‘r Gnaden,
Das kommt davon, wenn man so int‘ressiert;
Ihr habt euch zuviel Schätze aufgeladen:
Ha, ha! Nun seid ihr gründlich angeführt!“
Die Alte schweigt. O steinern harte Herzen,
Ihr ahnt nicht, wie ein grausam spitzes Wort
Des Armen reich gefülltes Maß der Schmerzen
Zum Überfließen bringt und fort und fort
Auf seinem rauhen, sonnenlosen Pfad
Verwundernd weiter klingt. Schlagt euch die Brust!
Mit Eisenschwere rollt des Schicksals Rad,
Wie leicht zermalmt auch eures Lebens Lust!
Jetzt kommt ein reich geschmücktes Weib daher.
Ein Knäblein an der Hand. Von Mitleid voll
Bleibt diese stehn und spricht: „Du plagst dich sehr;
Ich helf‘ dir Mütterchen.“ „Max bist du toll!“
Ruft streng das Weib und reisst dann mitGewalt
Den Sohn hinweg. „Vergisst du ganz und gar“ -
„Was sich geziemt, und wer dein Vater war!“
Die Gräfin rauscht davon. Da tritt heran
Ein schlichter Herr, bedeutend von Gesicht
(Gewiss ein kluger, ein gelehrter Man),
Und ohne dass ein einzig Wort er spricht
Fasst er den Korb, schwingt kräftig ihn empor
Und hilft der Alten mit geschäft‘ger Hand
Das Tragband zu befest‘gen. Dann verlor
Er in der Menge sich. Die stand
Und starrte auf ein Goldstück, das der Mann
Ihr in die Hand gedrückt, bevor er ging:
Dass ihr gehört das gelbe, runde Ding.
Dann schrickt sie auf: „Ach Gott, ich dankt‘s ihm nicht!
Ein Engel war es wohl im Menschenkleid:
Aus seinen Augen strahlte Himmelslicht!“
„Ein Engel? Frau ihr seid nicht recht gescheit,“
Spricht da ein Arbeitsmann, der zugeschaut,
Wie jener Herr der Alten Hilfe bot,
Und wahrlich seinen Augen kaum getraut:
„´s war Prinz Johann; er half euch aus der Not,
Das könnt ihr stolz eurem Dorf berichten.“
„Ein Engel ist‘s drum doch!“ Sie bleibt dabei.
Erzählt von Wundern künftig sie Geschichten:
„Vom Prinzen Johann die“ ist stets dabei.
Bildnachweis
Kopfbild: Jugendbildnis des Königs Johann von Sachsen (Stahlstich von 1831)
Abb. im Text: König Johanns von Johannes Schilling geschaffenes Reiterstandbild auf dem Theaterplatz in Dresden, Juni 1977. Urheber: Waageberlin