In der berüchtigten Geheimrede vor den Gauleitern am 03.08.1944 in Posen sagte der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler: „Wenn eine Familie als vogelfrei erklärt...wurde..., dann hieß es: Dieser Mann hat Verrat geübt, das Blut ist schlecht - Das Verräterblut muss ausgerottet werden...Die Familie Stauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied.“ i
Von
dieser Sippenhaft waren nicht nur Erwachsene, sondern auch die
Jugendlichen und Kinder, auch Kleinkinder der Verschwörer betroffen.
Sie wurden von der Gestapo entführt und an einen den Eltern und
Verwandten unbekannten Ort verschleppt. Diese perfide Methode
Himmlers, als Bestrafung gedacht, erhöhte den psychischen Druck auf
die noch lebenden Angehörigen der Verschwörer erheblich. Diese Art
der kollektiven Rache war ein Martyrium, vor allem für die Mütter.
Auch die Kinder litten, denn sie erlebten die Inhaftierung der
Mutter, die plötzliche Trennung von ihr und den Geschwistern als
Schock. Die existenziell wichtigen Familienbeziehungen brachen ab,
ohne dass sie Gründe dafür erkennen konnten. Sie fanden sich in
völlig fremden unbekannten Bedingungen wieder, nämlich in einem
Kinderheim in Bad Sachsa, das aus mehreren Landhäusern bestand,
idyllisch gelegen an einem Waldrand im Südharz. Bei vielen war damit
das innere Chaos vollkommen. Ab August 1944 trafen nach und nach 46
Kinder aus verschiedenen „Reichsteilen“ ein. Der Älteste war 15
Jahre alt, das Jüngste war im Babyalter. Dort gerieten sie in
strenge Isolation, sie durften weder ihr Haus noch das Gelände ohne
Aufsicht verlassen. Es gab kein Radio und keine Zeitung. Die Kinder
durften auch nicht in die Schule gehen. Es drängt sich die Frage
auf, was haben sie den ganzen Tag gemacht? Sie haben viel gespielt,
gebastelt und Sport getrieben. Sie sind auf dem weitläufigen Gelände
spazieren gegangen. Die Behandlung der Kinder war ausgesprochen
freundlich. Die ersten Wochen bis zum 8. Oktober 1944 wurden die
Geschwister nach Geschlecht und Altersgruppen getrennt und in
verschiedenen Häusern untergebracht, sie konnten sich nur zuwinken
oder trafen sich zufällig. Am schlimmsten aber war, dass sie nichts
über das Schicksal ihrer Eltern erfuhren, sie wussten nicht, wo und
unter welchen Umständen sie lebten, und ob sie jemals nach Hause
zurück kämen. Viele Kinder hatten Heimweh. Sehr hart traf es den
kleinen Goerdeler – Enkel Rainer, der bei seiner Ankunft bitterlich
weinte und immer bat: „ I mag heim, i mag heim.“ So beschreibt
die zwölfjährige Christa von Hofacker die Szene in ihrem Tagebuch,
das sie in Bad Sachsa schrieb. [21] Weihnachten wurde das Heimweh bei
allen wieder stärker. Christa von Hofacker: „Der Gesang und der
ganze Hauch des Heiligen Abends stimmte wehmütig. Alfred [von
Hofacker] neben mir brach fassungslos in Tränen aus – ich konnte
ihm nicht helfen.“
Niemand durfte die Namen der Kinder
wissen, den Kindern war verboten, die echten Namen zu benutzen. Sie
erhielten Decknamen. Die Stauffenbergs hießen nun „Meister“, die
Hofackers „Franke“, die Goerdelers „Hofmann“ usw. Wie ernst
es dem Gauamtsleiter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV)
und der Heimleiterin, einer strammen Parteigenossin mit Namen Köhler,
damit war, beschreibt folgende Geschichte: Der achtjährige Axel
Freytag von Loringhoven hatte zufällig herausbekommen, dass die
Stauffenberg-Kinder unter ihnen waren sowie weitere Kinder von
sogenannten„Vaterlandsverrätern“. Die Kinder führten
untereinander Gespräche darüber, Axel wurde ertappt, es wurde ein
Exempel statuiert. Er wurde vor einer Art „Femegericht“ aller
Betreuerinnen zitiert. Das eingeschüchterte Kind musste versprechen,
nie wieder einen echten Namen in den Mund zu nehmen. Aber bei den
älteren Kindern zeigte das wenig Wirkung. Sie waren sich ihrer
Identität bewusst.
Christa von Hofacker fand über eine zugängliche Kindergärtnerin heraus, dass ursprünglich die Kinder nur für einen Zeitraum von ca. 8 Wochen bleiben sollten, „bis die Eltern und die großen Geschwister umgebracht worden wären. Dann sollten die Älteren in Napolas und die Kleinen in fremde SS-Familien verteilt werden." Anfang Oktober änderte Heinrich Himmler seine Strategie, und es wurden viele Kinder entlassen. Die verbliebenen Kinder konnten zusammen in ein Haus ziehen. Weihnachten 1944 lebten nur noch 14 Kinder in dem Heim: Sechs Stauffenbergs, drei Vettern und Cousinen Hofacker, eine Lindemann-Tochter, zwei Goerdeler-Enkel und zwei kleine Mädchen, Lore Bernardis und Renate Henke. Der Tante der Stauffenberg-Kinder, Melitta Schenk Gräfin von Stauffenberg, gelang es zur großen Freude der Kinder, Weihnachten 1944 diese in Bad Sachsa zu besuchen. Dadurch erfuhr die Familie, später auch die Mutter der Kinder Nina, wo die Kinder lebten und dass sie versorgt und betreut waren.
Ostermontag 1945 sollten alle Kinder in einem Werkstatt–Wehrmachtswagen in das KZ Buchenwald verbracht werden. Auf der Fahrt nach Nordhausen überflogen Tiefflieger das Gelände und schossen. Der fürchterliche Bombenhagel dauerte eine halbe Stunde. Der Bahnhof wurde unbenutzbar. Deshalb brachte man die Kinder zurück in das Kinderheim Bad Sachsa, wo sie wesentlich besser und sicherer aufgehoben waren als im KZ.
Die Verwandten der Kinder befanden sich in dieser Zeit im KZ Buchenwald. Seit Juli 1944 waren insgesamt 13 erwachsene Mitglieder der Familie Stauffenberg in Sippenhaft geraten. Hinter ihnen lag eine Odyssee, die im KZ Stutthof begann und weiter über das SS-Straflager Matzkau in das KZ Buchenwald führte. In Matzkau verstarb die Mutter von Nina Stauffenberg, Anna Freiin von Lerchenfeld, an Thyphus. Später wurden die Sippenhäftlinge in das KZ Dachau verlegt. Am 25. April 1945 mussten sie wieder in Busse einsteigen und der Transport ging in Richtung Alpen, zunächst ins Durchgangslager Reichenau. In Niederdorf in den Dolomiten konnten sie schließlich durch glückliche Zufälle befreit werden, ehe der Befehl Himmlers, sie am 28. April zu töten, ausgeführt werden konnte. Die Häftlinge sollten nicht in die Hände der Alliierten fallen.
Fräulein Verch, Stellvertretende Heimleiterin in Bad Sachsa, hatte den Stauffenberg-Kindern -- zwar verspätet, aber immerhin – von der Geburt der Schwester Konstanze am 27.Januar 1945 erzählt. Fräulein Verch war umgänglich, die Kinder hatten Vertrauen zu ihr gefasst. Sie heiratete nach dem Krieg den späteren Bürgermeister Bad Sachsas, Willi Müller.
Am 12. April 1945 besetzten die Amerikaner Bad Sachsa. Der neu ernannte Bürgermeister Willi Müller, ein alter Sozialdemokrat, der gerade aus dem KZ entlassen worden war, hielt eine Rede und eröffnete den Kindern, dass sie frei wären. Christa von Hofacker schrieb in ihr Tagebuch: „Er sagte wörtlich: ‚Und jetzt heißt ihr so wie früher. Ihr braucht Euch Eurer Namen und Väter nicht zu schämen, denn sie waren Helden!‘.“ Für die Kinder änderte sich aber wenig. Am 11. Juni erschien endlich die Großtante der Stauffenberg–Kinder, Gräfin Üxküll. Sie war lange Jahre Rotkreuzoberin und konnte einen Bus chartern. Gräfin Üxküll transportierte auch die Kinder der Hofackers, der Goerdelers und der Lindemanns unbeschadet nach Hause. Das waren die letzten in Bad Sachsa verbliebenen Kinder. Die Stauffenberg–Kinder brachte sie heim nach Lautlingen. Das Elternhaus in Bamberg war völlig zerstört und ausgeraubt. Wo aber war die Mutter, Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg? Erst Anfang Juli konnten die Mutter mit der Tochter Konstanze, die in Trogen bei Hof gestrandet waren, heimgeholt werden. Die Familie war wieder vereint.
Bildnachweis
Rechte: Konstanze von Schulthess, geb. Gräfin von Stauffenberg
Literatur
Felicitas von Aretin: Die Enkel des 20. Juli 1944. Leipzig 2004
Wibke Bruhns: Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie. Berlin 2004
Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie. Berlin 2006 (9. Auflage)
Joachim Fest: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli. Berlin 1994
Friedrich-Wilhelm von Hase (Hg.): Hitlers Rache. Stiftung Christliche Medien 2014
Peter Hoffmann: Stauffenberg und der 20. Juli 1944. 2. Auflage. München 2007
Peter Longerich: Heinrich Himmler. Zweite Auflage, Pantheon – Ausgabe Mai 2010
Eva Madelung und Joachim Scholtyseck: Heldenkinder, Verräterkinder. München 2007
Dorothee von Meding: Mit dem Mut des Herzens. Die Frauen des 20. Juli. Berlin 1992
Konstanze von Schulthess: Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg. Ein Porträt. München und Zürich 2008
Eberhard Zeller: Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild. Paderborn, München, Wien, Zürich 1994
Vierteljahresheft für Zeitgeschichte 1 (1953)
Der Spiegel 17/2008. Der Tragödie zweiter Teil. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-56670345.htm...