Am 21. Oktober1941 schreibt der Jurist Helmuth James Graf von Moltke an seine Frau Freya. Ein Jahr zuvor hatte er begonnen, in seiner Heimatstadt Kreisau Menschen um sich zu scharen, die eine grundlegende geistige, gesellschaftliche und politische Reform anstrebten. Es ging um die "Wiederherstellung von Recht, Würde und Menschlichkeit". Moltke wurde im Januar 1944 verhaftet und ein Jahr später hingerichtet, im Zuge des Blutbades nach dem 20.Juli 1944, das die NS-Führung durch den Volksgerichtshof unter den Regimekritikern anrichtete.
Ursula Brekle Leipzig, am 20. Juli 2024
[Mein liebes Herz,]
Berlin, den 21.10.40
Der Tag ist so voller grauenhafter Nachrichten, daß ich nicht in Ruhe schreiben kann, obwohl ich mich um 5 zurückgezogen und eben einen Tee getrunken habe. Aber mein Kopf tut mir trotzdem weh. Das was mir augenblicklich am nächsten geht, sind die mangelhaften Reaktionen der Militärs. Falkenhausen und Stülpnagel sind an ihre Plätze zurückgekehrt, statt nach den letzten Vorfällen abzugehen, neue schreckliche Befehle werden gegeben und niemand scheint etwas dabei zu finden. Wie soll man die Mitschuld tragen?
In Serbien sind an einem Ort zwei Dörfer eingeäschert worden. 1 700 Männer und 240 Frauen von den Einwohnern sind hingerichtet. Das ist die „Strafe“ für den Überfall auf drei deutsche Soldaten. In Griechenland sind 220 Männer eines Dorfes erschossen worden. Das Dorf wurde niedergebrannt, Frauen und Kinder wurden an der Stätte zurückgelassen um ihre Männer und Väter und ihre Heimstatt zu beweinen. In Frankreich finden umfangreiche Erschießungen statt, während ich hier schreibe. So werden täglich sicher mehr als tausend Menschen ermordet und wieder Tausende deutsche Männer werden an den Mord gewöhnt. Und das alles ist noch ein Kinderspiel gegen das, was in Polen und Russland geschieht. Darf ich denn das erfahren und trotzdem in meiner geheizten Wohnung am Tisch sitzen und Tee trinken? Mach‘ ich mich dadurch nicht mitschuldig? Was sage ich, wenn man mich fragt: und was hast Du während dieser Zeit getan?
Seit Sonnabend werden die Berliner Juden zusammengetrieben: abends um 21.15 werden sie abgeholt und über Nacht in eine Synagoge gesperrt. Dann geht es mit dem, was sie in der Hand tragen können, ab nach Litzmannstadt und Smolensk. Man will es uns ersparen zu sehen, daß man sie einfach in Hunger und Kälte verrecken lässt und tut das daher in Litzmannstadt und Smolenzk. Eine Bekannte von Kiep hat gesehen, wie ein Jude auf der Straße zusammenbrach; als sie ihm aufhelfen wollte, trat ein Schutzmann dazwischen, verwehrte es ihr und gab dem auf dem Boden liegenden Körper einen Tritt, damit er in die Gosse rollte; dann wandte er sich mit einem Rest an Schamgefühl an die Dame und sagte: „So ist es uns befohlen.“
Wie kann jemand so etwas wissen und dennoch frei herumlaufen? Mit welchem Recht? Ist es nicht unvermeidlich, daß er dann eines Tages auch dran kommt und daß man ihn auch in die Gosse rollt?-
Das alles ist ja nur Wetterleuchten, denn der Sturm steht vor uns.- Wenn ich nur das entsetzliche Gefühl los werden könnte, daß ich mich selbst habe korrumpieren lassen, daß ich nicht mehr scharf genug auf solche Sachen reagiere, daß sie mich quälen, ohne daß spontane Reaktionen entstehen. Ich habe mich selbst verzogen, denn auch in solchen Sachen reagiere ich über den Kopf. Ich denke über eine mögliche Reaktion nach, statt zu handeln.
[James]
Quellen
Briefe an Freya. 1939–1945. Hrsg. von Beate Ruhm von Oppen, 2. Auflage Beck, München 1991, 3. Auflage ebd. 2005
Manifest der Stiftung 20. Juli
Günter Brakelmann: Helmut James von Moltke 1907–1945. Eine Biographie. C. H. Beck, München 2007
Madelung, Eva, und Joachim Scholtyseck: Heldenkinder, Verräterkinder. München 2007
Fest, Joachim C.: Hitler. Eine Biographie. Berlin 2006 (9. Auflage)