Wenn man an einem schönen Sommertag durch Söllichau geht, die Ruhe und Beschaulichkeit dieses herrlichen Heidedorfes genießt, könnte man leicht zu dem Trugschluss kommen, dass wenn beim Fleischermeister vorm Laden ein Fahrrad umfällt, dies das größte historische Ereignis seit dem dreißigjährigen Krieg sei. Aber mit Nichten, wie unsere gesamte Heimat, ist auch Söllichau reich an Geschichte.
Wir wollen uns heute mit der Geschichte von Söllichau, eines Dorfes in der „Dübener Heide“, in der ersten Hälfte des 19.Jahrhundert beschäftigen. Die Sache ist einerseits sehr komplex, weil wir uns am Ende des Feudalismus, Anfang des Kapitalismus bewegen, - andererseits auch sehr spezifisch, denn es geht um die Söllichauer Bauern und ihr Verhältnis zu den jeweiligen Dübener Pfarrern.
Von alters her hatte der Bauer keinen Besitz an Land. Denn das gehörte dem jeweiligen Herrscher; in Sachsen also dem Kurfürst, später dem König. Dieser gab es entweder einem Rittergutsbesitzer, der Kirche, einer Stadt oder anderweitig zum Lehen. Er verlieh praktisch das Land, natürlich gegen eine entsprechende Gebühr und die das Land dann hatten verliehen es natürlich weiter. So auch in Söllichau.
Das Dorf Söllichau war ein Amtsdorf, unterstand also einem vom Kurfürsten eingesetzten Amtmann und gehörte in das Amt Düben.
Nach den Befreiungskriegen von 1813 kam ein großer Teil von Sachsen zu Preußen. So dass Söllichau wie heute, genauso wie Düben, zum neu geschaffenen Kreis Bitterfeld gehörte.
Wie sah es damals in Söllichau aus, was wurde über Söllichau geschrieben? In dem Zeitraum, in dem wir uns heute bewegen wollen, also in der ersten Hälfte des 19.Jahrhundert erschienen mehrere Veröffentlichungen über Sachsen, über Land und Leute, Städte und Dörfer u.s.w. Es war gerade große Mode, sozusagen der Vorläufer der Statistik.
In der Erdbeschreibung von Dr. Büsching aus dem Jahr 1791 steht über Söllichau: “... ein Pfarrdorf, dahin die Dörfer Tornau, Durchwehna und Schwemsal eingepfarrt sind.”
Besser beschrieb Magister Leonhardi 1803 das Amt Düben mit Söllichau in seiner Erdbeschreibung. Darin lesen wir, dass im Amt Ackerbau und Viehzucht nur mittelmäßig betrieben wird, der Getreideanbau zur Versorgung nicht ausreicht, dafür aber die Kartoffelernten gut sind. Die Bauern in den Dörfern nähren sich hauptsächlich durch das Fortfahren von Brennholz aus der Dübener Heide nach Düben, Delitzsch und Leipzig. Die Häusler und Tagelöhner fällen das Bau- und Klafterholz und brennen Kohlen (Köhlerei, auch Pechbrennerei gehört dazu) und die ganz armen Einwohner und ihre Kinder harken abgefallene Kiefernadeln zu Streu für die Viehställe, binden Besen, machen Quirle und Kienspäne (zur Beleuchtung), sammeln Erdbeeren, Heidelbeeren, Brombeeren und Pilze. Sie karren oder tragen diese Dinge dann in die umliegenden Städte, bis nach Leipzig.
Und diese Lebensumstände gab es auch in Söllichau.
Zur Einwohnerzahl schrieb Leonhardi: 1794 lebten in Söllichau in 67 Familien 375 Menschen; 1801 aber 327 Einwohner. Es kam immer darauf an, ob die Kinder ab 10 Jahre oder erst ab 14 Jahre mitgezählt wurden.
Ein weiterer Autor dieses Faches war August Schumann. In seinem “Post- und Zeitungslexikon für Sachsen” schrieb er 1824, dass Söllichau jetzt preußisch im Kreis Bitterfeld, Regierungsbezirk Merseburg, liegt. Bis 1815 war es sächsisch und gehörte zum Amt Düben im Leipziger Kreis. Das Dorf ist ziemlich groß, hat 78 Häuser, 355 Einwohner, eine Mutterkirche, eine Pfarre und Schule. Auch eine königliche Wildmeisterei und ein königliches Forsthaus gehörte dazu.
Soweit erst einmal etwas im Groben über die damalige Zeit. Wie war das Verhältnis zwischen den Söllichauer Bauern und dem Pfarrer in Düben in jener Zeit? Beginnen wir mit folgendem Schreiben. Der Dübener Pfarrer, Magister Johann Gottfried Kriebitzsch, schickte am 8.Juni 1796 einen Brief an alle seine Lehnsmänner, heute würden wir Pächter sagen, mit folgendem Inhalt:
Er macht bekannt, dass sein Vorgänger, Magister Johann Heinrich Wolleski, am 28.November 1795 gestorben war, und er nun der neue Pfarrer sei. Wer jetzt seinen Lehnschein (Pachtvertrag) verlängern wolle, der sollte am Dienstag, den 14.Juni 1796 vormittags, in seiner Pfarrwohnung erscheinen, den alten Lehnschein vorlegen und nach Entrichtung der Gebühren einen neuen Lehnschein dafür erhalten. Also versammelten sich an gedachtem Tag auch die Söllichauer Bauern im Dübener Pfarrhaus, um einen neuen Lehnschein zu bekommen.
Ein Lehnschein hatte folgenden Inhalt: Oben, in der linken Ecke, finden wir einen Stempel, einen Steuerstempel. Erst wenn dieser auf dem Papier war, galt der Schein als rechtswirksam. Dann folgen der Name des Pfarrers und des Lehnsmannes, sowie die Aufzählung der Grundstücke, die zum Lehen gehörten. Und schließlich wurden die zu leistenden Abgaben aufgezählt; hier war der Decem (der zehnte Teil der Ernte) für den Pfarrer am wichtigsten. Am Schluss standen, wie heute auch noch üblich, die Gebühren für den Lehnbrief. Beispiel: Bauer Purschwitz kostete die Sache insgesamt 5 Taler und 19 Groschen.
Nach der Ernte erfolgte dann die Abgabe des Decem und da es bei uns noch keine Zeitung oder Radio gab, war es die Aufgabe des Pfarrers von Söllichau, nach dem Gottesdienst auch Nachrichten zu verkünden: So den Tag der Abgabe und wie die Abgabe zu geschehen hatte.
In
dieser Angelegenheit schrieb der Dübener Pfarrer einen Brief an
seinen Söllichauer Amtsbruder
Magister Johann Friedrich Tittel. Die Ausdrucksweise ist uns heute
fremd und gewöhnungsbedürftig,
aber lesen Sie selbst: „Vielgeehrter Freund, demnach die Zeit
herbeinaht, da der
in Söllichau auf das Jahr 1796 gefällige Decem an Korn und Hafer
dem Pfarrer zu Düben entrichtet
wird, als ersuche demselben hierdurch, er wolle den sämtlichen
Censiten (Censiten
= Zinsleute,
hier also der Bauer und der Pfarrer von Düben, der als Grundherr
auftritt) bekannt
machen, dass
sie sich auf die Woche nach Martin Bischof (Martinstag) dazu bereit
halten und mir den Tag vorher
wissend machen sollen, wann ich mit Fuhre von hieraus kommen sollte.“
Dann kommt noch ein Dank an die Gemeinde, Gottes Segen für ihre Felder, für Gärten und Wiesen und zuletzt: Gott hat sie lieb. Dazu diese Anmerkung: „Der Hafer wird in Söllichau gehäuft gemessen und ist der Termin zur Abholung des Decems alle mal die Woche nach Martin Bischof, wo dem (Dorf) Richter die Notification, die hier nebenbei stehet, 8 Tage vorher zugeschickt wird. Da dann der Richter dem Pfarrer und seinen Leuten dabei eine Mahlzeit gibt, wofür ihm 1 alt Dübener Scheffel Korn und 1 alt Dübener Scheffel Hafer zu gute gehet“.
Weiter steht geschrieben, dass aus bisheriger Gewohnheit die Frau des Dorfrichters für 8 Groschen Semmeln und für sämtliche Censiten fast ein viertel Bier zu geben hatte. Das Gefäß für das Bier befand sich auf der Pfarre und war von dort mitzubringen. Der geübte Bierliebhaber wird jetzt sagen: " Was, ¼ Bier für 25 Mann?" Ich habe mal in den Dübener Akten nachgeschlagen, auch wenn es über die Jahrhunderte verschiedene Angaben gibt, kann wohl gesagt werden, dass ¼ Bier = 150 Liter waren. Es war auch zur Gewohnheit geworden, dass die Censiten für 8 Groschen gelben und schwarzen Tabak bekamen, dazu jeder der 25 Bauern eine kleine Pfeife.
Also für alle ein kleines Schmerzensgeld für die hohen Abgaben. Aber einige hatten auch noch Geldzinsen zu zahlen, wie zum Beispiel die Gemeinde Schwemsal, Herr Liebmann aus Pressel, der Neumüller von Düben und aus Söllichau die Herren Mühlbach, Purschwitz und Jentzsch.
Es ist die älteste Forstkarte der Dübener Heide. Hier lag ein Teil der Lehen der Söllichauer Bauern. Nachdem wir uns einen kleinen Einblick in die Feudalverhältnisse verschafft haben, einen kleinen Sprung in die Zeit der Napoleonischen Kriege, also in die Zeit von 1806 bis 1813.
Nur zwei Punkte will ich kurz erwähnen. Zum einen das Jahr 1806 und die Plünderungen durch die französischen Truppen von Marschall Davout, welche nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt durch unsere Gegend marschierten, in Richtung Berlin.
Söllichau hat das Glück, dass der Einwohner Johann Gottfried Herrmann, ein Zeitzeuge, diese Ereignisse aufgeschrieben hat. Er schrieb: “So geschah es, dass schon den 19.Oktober des Jahres 1806 die Franzosen auch in unsere Gegend kamen.“ Es wurde geplündert und es musste viel abgeliefert werden. Besonders traf es aber die Stadt Düben und andere Dörfer.
Als General Fabian Gottlieb von der Osten-Sacken 1813 mit seinen 30.000 Kosaken Söllichau durchquerte, von Mockrehna kommend, hat dieses Ereignis Othilie Ludwig geb. von Pflugk aufgeschrieben. Sie war in Söllichau geboren worden. Als Schriftstellerin und Dichterin hatte sie sich einen guten Ruf erworben.
Nach
diesem schrecklichen Krieg wurde unsere Gegend Preußen zugeschlagen. Zu
dieser Zeit kannten die Menschen
im Feudalsystem keine Reisefreiheit. Sie kamen über die Grenzen ihres
Dorfes nicht hinaus. Denn zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte die Obrigkeit einen
Dienst verlangen, deshalb musste jeder anwesend sein. Nur
mit Erlaubnis des Grundherren, für Söllichau war das der Amtmann
von Düben, war das Reisen
möglich, zum Beispiel zum Holzverkauf nach Leipzig oder um etwas auf
einem der umliegenden
Märkte zu verkaufen. Dazu benötigte man einen entsprechenden Pass. So war es bis zur Separation geregelt, die in Preußen 1821 begann. Danach gab
es zwar auch noch Dienstpflichten
der Bauern, aber diese konnten dann nach Absprache zwischen dem, der die
Dienste verlangte,
und dem, der sie zu erbringen hatte, erfolgen. Und die Dienste mussten entlohnt
werden. Bei
der Separation handelte es sich um eine große Umverteilung von
Besitz. Durch
eine Neuverteilung der vormals gemeinsam genutzten großen landwirtschaftlichen
Flächen konnte nun eine private Nutzung stattfinden. Die Separation veränderte das Landschaftsbild
grundlegend, da sie die Dreifelderwirtschaft
abschaffte und die heutigen geometrischen Ackerformen schuf. Dies
führte zu einer weitreichenden Agrarreform, die auch große
soziale Veränderungen auslöste.
(Landflucht: Um 1850 lebten noch 90% der Menschen auf dem Land; erst um 1900
lebte die Mehrheit der Deutschen in Städten.)
Die
ganze Sache war sehr kompliziert und dauerte insgesamt Jahrzehnte. In
Tiefensee, heute ein Stadtteil
von Bad Düben, fand die Separation in den 1830er Jahren statt, in
Düben erst Ende der
1840er Jahre.
Anfang 1848 begann die ganz Europa erfassende bürgerlich - demokratische Revolution. Von Italien über Frankreich, Deutschland, Österreich - Ungarn bis Polen griffen die Bürger zu den Waffen. Die Rufe nach Demokratie und Freiheit waren nicht mehr zu überhören.
Freiheit bedeutet nicht nur Presse- und Meinungsfreiheit sondern auch freie Wahlen. In dieser Zeit, voll von Pulverdampf, Demonstrationen und politischen Reden, kam es dann dazu, dass auch in Preußen die Nationalversammlung frei gewählt wurde. Natürlich durften nur die Männer wählen und auch nur die, die reichlich Steuern zahlten. Arme und Frauen blieben von der Wahl ausgeschlossen. Für unseren damaligen Kreis Bitterfeld wählten die Bürger den Pfarrer Ludwig Hildenhagen aus Quetz, bei Halle, wo dieser seit 1838 im Amt war.
Im Abgeordnetenhaus widersetzte er sich den Weisungen des Königs und forderte die Menschen in seinem Wahlkreis auf, keine Steuern mehr zu zahlen. In diesem Zusammenhang schrieb Hildenhagen am 19. November 1848 auch einen Brief an die Gemeinden Durchwehna, Tornau, Schwemsal, Kossa und Söllichau.
Die Dörfer hatten sich 14 Tage vorher an ihn gewandt, weil sie wissen wollten, wie in Zukunft mit den Abgaben an den Dübener Pfarrer zu verfahren sei. Hildenhagen antwortete: „Was diese betrifft, die Nationalversammlung hat die Steuerverweigerung beschlossen. Wir hoffen, das Volk wird diesem Beschluss nachkommen und nicht mehr sein im Schweiße seines Angesichts erworbenes Gut hergeben, damit es zu den Gelüsten und Gelagen einzelner Personen verwendet werde.“
Gern
schlossen sich die Söllichauer ihrem Abgeordneten an und waren
plötzlich Revolutionäre.
Die Bauern boten der Obrigkeit die Stirn. Lange währte die Freude
über den Sieg
allerdings nicht. Denn schon ein Jahr später war die Revolution in
ganz Europa niedergeschlagen.
Die Anführer wurden vor Gericht gestellt und hart bestraft. Als
Pfarrer kam Ludwig Hildenhagen vor die geistliche Gerichtsbarkeit.
Die beschloss 1851 seine
Amtsenthebung, wodurch er ohne Einkommen war. Auch sollte er
sämtliche Gerichtskosten bezahlen.
Hier wurde also der Versuch unternommen, ihn in Armut zu bringen, was aber
nicht gelang. Er ging nach Halle und lebte dort als Privatgelehrter.
Auch Söllichauer kamen letztendlich vor Gericht. Der
Dübener Oberpfarrer Große hatte sie verklagt wegen der
Abgabenverweigerung. Wie wir
am Anfang gesehen haben, hatten die Bauern ja immer pünktlich
abgeliefert. Und das
nicht erst seit 1796, wie ein Beleg von 1764 beweist.
Auch
die vorgebrachten Ausreden, das haben wir nicht gewusst, die Abgaben
waren doch wohl
mehr freiwillig und andere Ausflüchte halfen nicht. In
der Klageschrift steht der Name des Klägers und die Namen der
verklagten Söllichauer Bauern, Ihre noch zu zahlenden Schuld und auch die Bezeichnung ihrer Güter,
Einhufengut oder
Zweihufengut plus Hausnummer. Auch
die Tatsache, dass sie sich den besten Anwalt nahmen, Rechtsanwalt
Peters aus Düben, bewahrte
sie vor Strafe nicht. Peters war in den 1820er Jahren Justizamtmann
in Düben, auch
einige Jahre Bürgermeister und ließ sich dann als Anwalt nieder.
Übrigens sein in Düben geborener Sohn wurde ebenfalls Jurist. Er brachte es bis zum Reichsgerichtsrat und ist bekannt als Vordenker für eine gesamt europäische Gesetzgebung. Seine Arbeiten dazu liegen heute im Max Plank Institut für Rechtswissenschaften.
Nur in einem Punkt konnte Senior Peters noch Gnade erwirken. Die noch fälligen Abgaben brauchten erst nach der nächsten Ernte bezahlt werden.
Wir sehen also, das Leben unserer Vorfahren war doch aufregender als gedacht.
Bildnachweis
Friedrich August, König von Sachsen: Die Abb. stammt aus Wikimedia, sie ist gemeinfrei.
Alle anderen Abb.: Sammlung Lutz Fritzsche.