Als „Ahasver" 1988 in der DDR im Buchverlag „Der Morgen" erschien, schrieb ich eine Kurzrezension. Die ließ die Brisanz des Romans wohl ahnen, deutete sie aber nur vorsichtig an. Fehleinschätzung. Selbstzensur. Das lautete so: „Gegenwärtig der satirisch-?ktive Briefwechsel zwischen Berlin und Jerusalem über Nichtexistenz / Existenz des Ewigen Juden; gegenwärtig die Bedrängnisse eines Schriftstellers - es sind die unseren - angesichts des Zustandes dieser Welt."
So verknüpft Heym die Teile seines Romans in großartiger Fantastik. Da ist einmal die mythisch-biblische Schöpfungsgeschichte: der Engelssturz von Luzifer und Ahasver, die beide Gottes größte Schöpfung nicht anerkennen und anbeten wollen: Den Menschen. Denn: „ ... er wird aus Deiner Erde einen stinkenden Sumpf machen, er wird das Blut seines Bruders vergießen und mehr Sünden begehen, als ich je er?nden könnte, und wird ein Spott und Hohn sein auf Dein Bild ..." Danach erhält Ahasver eine menschliche Kontur. So in dem Volksbuch vom „Ewigen Juden"‚ 1602.
Ein Schuhmacher in der Jerusalemer Via Dolorosa, der dem sein Kreuz tragenden, erschöpften Jesus nicht Schatten seines Hauses gönnt und so ver?ucht wird, Umherirrender zu sein bis ans Ende der Tage, da Gottes Sohn wiederkehrt.
Sodann, den größten Raum des Romans einnehmend, ein historischer Teil:
Die Geschichte des sehr mittelmäßigen Paul von Eitzen, der in der Protektion des Dr. Martin Luther, in der nachreformatorischen Zeit, in Schleswig-Holstein bis zum ein?ussreichen Superintendenten aufsteigen kann. Allein, dies nur mit Hilfe des ihm beigegebenen Gesellen: Leuchtentrager, und das ist Luzifer, der Teufel. Eine Konstellation, die Stefan Heym virtuos zu gestalten vermag, episodisch, sinnlich-?eischlich, sprachlich. Vor allem aber verschafft er ihm, von Eitzen, die mehrfache Begegnung mit dem ewig wandernden Juden, Ahasver. Der war vom Herzog von Schleswig zum Spießrutenlauf verurteilt worden. Und der Theologe, vom lutherischen Antisemitismus geprägt, weist den Blutüberströmten weg. Der Christ begeht die weitaus größere Sünde an dem gepeinigten Juden als einst der Jude, der dem Kreuztragenden Ruhe und Schatten seines Hauses verweigert hatte.
Die Verhältnisse sind erstarrt unter der Herrschaft der Mächtigen und unter einer dogmatischen Ideologie „der allein richtigen und seligmachenden Lehre". Und „aus den lautesten Revolutionären" sind „die strengsten Hirten der Ordnung" geworden, „die horchen und gucken ... damit auch keiner davon abweiche". Höchst amüsant und bitter zugleich.
Doch es kommt im dritten Teil noch besser. Heym er?ndet einen Briefwechsel zwischen Prof. Dr. Dr. h. c. Siegfried Beifuß, Institut für Wissenschaftlichen Atheismus Berlin, DDR, und Prof. Jochanaan Leuchtentrager [!] Hebrew University Jerusalem.
Der Berliner, beaufsichtigt vom zuständigen Ministerium, weist mit Entschiedenheit das Bezeugnis der nach wie vor realen Existenz jenes Ahasver durch den „Kollegen" in Jerusalem zurück: „Wir in der DDR glauben nicht an Wunder." Die wissenschaftlichen und die metaphysischen „Beweise" gehen herüber und hinüber. Im schönsten M/L-Jargon* und im immer um einen Grad überlegenen Spiel luziferischer Argumente.
Denn letztlich geht es ja um eine Idee. Als Leuchtentrager und Ahasver, unerwünscht und unerlaubt, in der Berliner Wohnung von Beifuß auftauchen und sodann alle drei plötzlich verschwunden sind, durch ein Brand-Loch in der Wand, stehen die „zuständigen Organe" vor einem Rätsel. Da wurde doch tatsächlich jemand vom Teufel geholt - wie es ja auch jenem von Eitzen geschehen war ...
Stefan Heym erklärte das Rätsel, als er 1993 den Literaturpreis der Stadt Jerusalem erhielt: Ahasver ist für ihn der „Ewige Rebell"‚ im „Ewigen Kampf für das neue Utopia". Er sah ihn für einen Moment siegen: Im Aufstand des Warschauer Ghettos, 1943, im Sieg über Hitler, 1945, in der friedlichen Revolution, Oktober 1989. Und er beendete seine Dankesrede in Israel so:
„Ich glaube, dass es eine Chance für den Frieden gibt, ich spüre, dass Ahasver wieder nahe ist und uns eine große Veränderung verkündet - zum Guten, hoffe ich."
Quelle
Nalewski, Horst: Deutschstunden. Miniaturen zur deutschen Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2015
Bildnachweis
Bild 1: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-031 / Weisflog, Rainer / CC-BY-SA 3.0
Bild 2: ?eština: Ahasver, Svitávka. 1933, sádra. Bayerová, soukromá sbírka. Urheber: Dominik Matus
Bild 3: Franz von Stuck, llustrierter Katalog der Münchener Jahresausstellung von Kunstwerken Aller Nationen im königl. Glaspalaste 1890, Ausgabe vom Anfang September, München 1890
Bild 4: Gemälde von Sebastiano del Piombo (1485-1547)
Bild 5: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-039 / Link, Hubert / CC-BY-SA 3.0