Am 28. April 1924, vor 100 Jahren, schrieb Anton Wildgans, ein in Österreich berühmter Lyriker und Dramatiker, an seine Frau:
Weimar, 28.April 1924
Liebste Lilly-
Aus der beiliegenden Ansichtskarte entnimmst du, was ich heute vormittag alles absolvierte.
Nun ist es sechs Uhr und ich habe das Gefühl, daß mir meine Beine oberhalb der Knöchel abbrechen. Trotz der peinigenden Muskel- und Sehnenschmerzen war ich nachmittags auf dem Weimarer Friedhof, wo auch die Fürstengruft ist, in der Goethe und Schiller ruhen. Diese Begräbnisstätte hat mich einigermaßen enttäuscht.
Die Särge stehen wie Kisten in einer unterirdischen Rumpelkammer herum, insonderheit gleichen die Truhen, die die Zinnsärge Goethes und Schillers bergen, zwei gewaltige Kisten, durch ihre durchaus rechtwinkligen Linien. Ich habe mir dies alles viel stilvoller, viel würdiger und erhabener gedacht. Immer wieder erlebt man, daß die Phantasie viel reiner, wesentlicher und großartiger sieht.
Im Goethehaus selbst aber ist noch in einzelnen Räumen die Stimmung der wirklichen Vergangenheit und der Eindruck einer hohen bürgerlichen Kultur. In den Gesellschaftsräumen stehen freilich die Möbel nicht seit damals so, wie sie jetzt stehen. Aber sie stehen womöglich wie damals. Ist es vorstellbar, daß Goethes Schwiegertochter Möbel und Hausrat verklopfte, und daß die vorderen Zimmer zeitweise vermietet waren?
Den unversehrten Eindruck von damals gewähren nur die vier kleinen, fast düsteren, ja ärmlichen Räume, die Goethes eigentliche Wohnung bildeten. Mir ist sehr verständlich, daß er sie gerade so und nicht anders hatte und haben wollte. Ich bringe ein sehr gutes Buch mit Innenansichten vom Goethehaus mit.-
Es gäbe natürlich noch viel zu sehen, aber ich befolge auch hier meine Methode, lieber weniges, dies aber immer und immer wieder zu betrachten, um es ganz und bleibend in mich aufzunehmen. Ich werde demnach jeden Tag ins Goethehaus gehen, bis ich darin ganz heimisch bin…
Am Donnerstag dürften mich Stakemanns per Automobil von Weimar abholen, abends in Leipzig Gesellschaft, und dann geht‘s wieder heimwärts. Sonntag will ich jedenfalls wieder bei euch sein und die musikalische Orgie anführen.
Indessen tausend Küsse und Grüße von Deinem
Toni.
Quelle:
"Meine liebe...!" "Sehr verehrter...!"
365 Briefe eines Jahrhunderts
Arnstadt & Weimar 1999
Bildnachweis:
Kopfbild: Weimar, Goethehaus, Sterbezimmer. Bundesarchiv Inventarnummer:
Abb. 1 und 5: Aus Wikipedia, gemeinfrei.
Abb. 2: Särge Goethe Schiller in der Fürstengruft: Urheber Z thomas
Abb. 3: Weimar, Goethe-Haus, Juno-Zimmer. Bundesarchiv Inventarnummer:
Abb. 4: Goethehaus Weimar, Goethes Arbeitszimmer: Urheber Michiel Hendryckx