Über Christrosen und Kamelien im Sachsenland
Im Silvesterregen an der dänischen Nordsee entdeckte ich gleich in den ersten Januartagen zwei winzige Blumengesichter im Gras, die mich mit zarten Farben anschauten: Hornveilchen mit weißen und leicht violetten Blütenblättern. Es war unmöglich wegzuschauen, weil die Blüten mit ihren gelben Nasen geradezu magisch zu mir hochblickten. Diese frühen Blumen im beginnenden Jahresrhythmus wollten ebenso im Quadrat aquarelliert werden, wie zuvor das Ferienhaus in Houstrup und wie die wogende See. Das Blumenerlebnis wirkte noch nach, als ich bereits nach Hause zurückgekehrt war. Am 08. Januar 2023 setzte ich mich hin und füllte ein Blatt Büttenpapier mit den ersten Blumengesichtern, die ich im neuen Jahr erblicken durfte. Durch das Aufleuchten der Hornveilchen ermutigt, führte die erste Wanderung in den heimischen Gefilden runter in die Aue und in den Wald nahe der Luppe.
Hin zu dem lieben Ort, an dem alljährlich Winterlinge blühen. Mich erwartete keine Enttäuschung, sondern eine ganze Kompanie aus Köpfen in einem kräftigen Gelb. Im Farbenoktaeder ist das Weiß die hellste Farbe und darauf folgt sogleich die Farbe Gelb. Erst dann kommen in der Helligkeitsskala die Farben Rot, Blau und Grün sowie Schwarz am untersten geometrischen Ort. Die Leuchtkraft der Winterlinge ist im Winter ein Faszinosum und das vor allem dann, wenn diese Winzlinge durch den Schnee hindurchstrahlen. Blütenkopf und Blattkragen ergeben einen freudigen Gegensatz von Gelb und Grün. Am 13. Januar 2023 malte ich fünf Blütenköpfe in kreisförmiger Anordnung auf das Büttenpapier. Beim Aquarellieren entschied ich mich für ein kaltes Gelb. Matthias Jackisch, Zeichner und Bildhauer in Tharandt, schaute sich das Aquarell an und beanstandete, dass die Blüten nach Limette und nicht nach Winterling aussehen würden. Ich hatte auf dem Waldboden wirklich ein Zitronengelb gesehen. Ließ mich aber überzeugen und brachte am Tag darauf ein warmes Turnergelb in die Blüten hinein. Das Ergebnis überzeugte. Die Leuchtkraft der Blütenköpfe fiel nun um einen Schub energischer aus.
Als nächste Aufgabe stellte ich mir die Christrosen, die draußen auf unserem Küchenfenster stehen und bereits im Dezember vor Weihnachten blühten. Aber der erste Malversuch ging daneben. Auf unserem Fensterbrett gedeiht gerade eine Pflanzengruppe mit einem Blütendickicht, das mich zeichnerisch überforderte. Das Durcheinander aus ineinander verschachtelten Blüten ergab auf dem Malkarton keinen Sinn. Ich musste mir eine einfachere Gruppe aussuchen. Mit einer geöffneten weißen Hauptblüte und sechs zum Teil noch geschlossenen Nebenblüten. Diese etwas leichtere Malaufgabe ließ sich am 19. Januar 2023 bewältigen. Für die Betrachter erschließt sich das Aquarell durch seine Übersichtlichkeit ohne größere Schwierigkeiten als eine Christrosengruppe. Da nun aber einmal ein praktikables Motiv gefunden war, erprobte ich es zunächst mit einem dunkleren Hintergrund und danach noch einmal in einer helleren Version mit violetten Passagen im Himmel. Da die Christrosen mitten im Winter unbeeindruckt von Wetter, Kälte und Schnee mit ihren weißen Blüten die Menschen erfreuen, symbolisieren sie in der dunklen Jahreszeit Licht, Leben und Selbstbewusstsein. Wegen ihrer schwarzen Wurzeln taufte der schwedische Botaniker Carl von Linné (1707 – 1778) die Christrose oder weiße Schneerose auf den lateinischen Namen Helleborus niger L., was im Deutschen Schwarzer Nieswurz heißt. In der umgangssprachlichen Redeweise Christrose steckt aber auch eine gute Portion an christlichem Selbstbewusstsein. Zum einen wird mit diesen Pflanzen das Fest der Geburt des Jesuskindes gefeiert und ferner wird das Vermögen symbolisiert, auch unter widrigen Umständen seinen Glauben zu leben und leuchten zu lassen. Unterdessen wirkte im Januar das Motiv der Hornveilchen nach. Durch ihre ausdrucksstarken Gesichter ließ mich die Frage nicht los, ob es vielleicht gelingen könnte, eine Hornveilchenblüte im Einzelporträt darzustellen? Die praktische Probe mit dem Pinsel ergab am 21. Januar 2023 das Ergebnis, dass dies möglich ist. Nun war die Bahn frei zu einem weiteren Blumenporträt. Ich hatte in meiner Serie weiße, gelbe und violette Blütenblätter gemalt. In der Palette der Blumenbilder fehlte jedoch die Farbe Rot. Man muss nun aber nicht bis zur Mohnblüte im Mai und Juni warten, um den Pinsel in ein leuchtendes Rot zu tauchen.
Immerhin sorgen die Kamelien bereits in den Wintermonaten für Farberlebnisse in Rot. Mich begleitet seit Jahren ein Ableger der Pillnitzer Kamelie. Bei der Diwa in Dresden handelt es sich um einen Kamelienbaum, der fast die Höhe von zehn Metern erreicht hat. Er entwickelt alljährlich etwa 30.000 Blüten. Inzwischen ist die Pillnitzer Kamelie mehr als zwei Jahrhunderte alt. Sie war noch ein Kind des 18. Jahrhunderts. Wie die Kamelie genau nach Dresden kam, darüber schweigt sie bis heute, wenngleich durch Gentest die Verwandtschaft mit Uraltkamelien in Italien (Caserta) und Portugal (Campobello) nachgewiesen werden konnte. Überliefert ist jedoch, dass die Kamelie im Mai 1801 von dem damaligen Gärtnergesellen Carl Adolph Terschek (1782 – 1869) im Englischen Garten des Schlossparks zu Pillnitz ins Freie gepflanzt worden ist. Dem blühenden Baum gewährt heute im Winter ein fahrbares Glashaus Schutz. Linné hatte dieser Kamelienart mit den einfachen Blüten in Uppsala nach ihrer Herkunftsregion den Namen Camellia japonica L. gegeben. Sein Belegexemplar wird in London aufbewahrt. Da unsere Pillnitzerin im Laufe eines Jahrzehnts heftig gewachsen ist, mussten wir sie im Vorgarten auspflanzen. Leider entwickelte sie in diesem Winter keine Blüten.
Bei den beiden Aquarellen vom 22. und 24. Januar 2023 ließ ich mich von Fotografien anregen, die in dem Buch Das Geheimnis der Kamelie (2008) von Mustafa Haikal versammelt sind. Mitten im Winter Blüten in Weiß, Violett, Gelb und Rot zu aquarellieren ist ein Tun, das große Freude macht. Matthias Jackisch schrieb mir über die Bilderserie: „Deine 'Blüten im Winter' haben etwas trostvolles; es ist so, als käme anheimelnde Stimmung ins Haus. Ich kann hier nicht alle zu einem Quadrat zusammenschieben, aber immer zwei geht; da hab' ich bei den Kamelien gedacht, die beiden sind ein Bild, sehr schön, wie die beiden sich ergänzen, zwei sind ja auch eine Summe."
29. Januar 2023