Es gab im 19. Jahrhundert in Leipzig und anderen Städten Sachsens ein Festmahl der „Gelben Suppe“, das außer einem leicht rätselhaften Namen, einem faszinierenden Ablauf über mehr als ein halbes Jahrhundert und einer vielfach schillernden Bedeutung immer noch jede Menge ungeklärter Fragen bereithält – vor allem zum Auftaktgericht, der namengebenden Suppe ...
Dieses spezielle Festessen, in Leipzig jährlich ausgerichtet am ersten Werktag im neuen Jahr, war vor dem Ersten Weltkrieg ein jeweils herausragendes stadtpolitisches Ereignis und im Kern eine rituelle Zusammenkunft der Stadteliten mit ausgesprochen politischer Zielrichtung: Da jährlich ein Drittel der Stadtverordneten neugewählt wurde, veranstalteten Stadtverordnete und Stadträte jeweils im Anschluss an die konstituierende Sitzung des Stadtparlaments zu Ehren der ausscheidenden und neu gewählten Stadtverordneten ein Festessen, das nach seinem Auftaktgericht den Namen „Gelbe Suppe“ erhielt. Dieses besondere Festmahl mit seinem besonderen Auftaktgericht ist nur richtig zu deuten vor dem Hintergrund des vollkommen anderen Politikansatzes vor 1918: In einer bourgeoisen Stadtgesellschaft der erst beginnenden Moderne galt als es als ganz selbstverständlich, dass auf kommunaler Ebene die Gestaltungsmacht allein den städtischen Eliten zukam; durch das vordemokratische Privilegienwahlrecht, das an das Bürgerrecht und damit an Grundbesitz gebunden war sowie nur etwa ein Zehntel der Stadtbevölkerung das Wahlrecht gewährte, war dies auch umfassend abgesichert. Beim Festmahl versammelten sich also allein die Eliten und verpflichteten sich an einem herausragend geselligen Abend selbst in ihrer eigenen Weise auf den Dienst an der Stadtgemeinde – die sie zum großen Teil als Unternehmer, Beamte, Mäzene und Arbeitgeber ja selbst mit verkörperten. Während das Festessen der „Gelben Suppe“ in Leipzig als Neujahrsfestmahl zu Beginn des Geschäftsjahres einen zunehmend zeremoniellen Charakter annahm, erhielt es sich zum Beispiel in Chemnitz und Dresden als Jahresabschlussessen mit leicht anderer Ausrichtung; charakteristisch blieb hier bis zum Schluss so u. a. auch das Absingen satirisch-humoristischer Tafellieder als eine Art karnevalesker Bilanz des vergangenen Sitzungs- und Beschlussjahres. Eine treffende Charakterisierung für die Abhaltung des Festmahls in Leipzig geben jeweils die vielen für Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts überlieferten Berichte des „Leipziger Tageblatts“ – so besonders eindrucksvoll am 4. Januar 1893 über das Festmahl vom Vorvortag:
Das Festmahl, welches nach der erfolgten Einführung der neugewählten Stadtverordneten und der Neuconstituierung des Collegiums am ersten Sitzungstage der Stadtverordneten die Mitglieder des Rates und die Mitglieder des Stadtverordneten-Collegiums in fröhlich-geselliger Zusammenkunft zu vereinen pflegt, hat von jeher einen besonderen, die Annäherung der einzelnen Vertreter der Stadt unter einander fördernden Charakter getragen. Sie ist bis heute von demselben ansprechenden Geiste begleitet. Wie bekannt, empfing die festliche Tafel ihren Namen von dem ersten Gericht, das gewöhnlich in Form einer Erbsensuppe ausgetragen, dem Mahl für alle Zeiten eine feste culinarische Signatur verlieh. Auch heute noch darf die gelbe Suppe nicht fehlen.Diese feste culinarische Signatur bedeutet nichts weniger als dies: gelb musste die Suppe sein. Im Bericht zum Festmahl vom 2. Januar 1896 wird betont, es sei eine „ […] Tafel, die ihren traditionellen Namen von dem einstigen Gericht einer ‚Gelben Suppe‘ entlehnt, sich heute aber im Menu anspruchsvoller ausgebildet hat […]“. Nähere Erläuterungen zu der Art der „anspruchsvolleren“ Anrichtung dieser sicher symbolisch aufzufassenden Suppe, z. B. irgendwelche Rezeptvorgaben, waren bisher nicht zu ermitteln.
Erste Belege für
dieses besondere Ereignis stadtpolitischer Repräsentationskultur zu
Anfang jeden neuen Geschäftsjahres finden sich nach heutiger
Kenntnis für Leipzig schon vor 1850 sowie kurz danach, für
Chemnitz aber erst für 1875 und für Dresden ab 1888.
Hinweise
in allen Belegen lassen erkennen, dass zumindest in den drei
sächsischen Großstädten die Tradition schon länger besteht.
Vermutlich lieferte Leipzig das Urmuster, da hier die ältesten
Belege existieren. Überliefert sind für Leipzig auch die meisten
Quellen, u. a. im Stadtarchiv und dem Stadtgeschichtlichem Museum -
vor allem Einladungen, Teilnahmelisten, Speisekarten,
Organisationsvermerke und Zeitungsberichte über die Abhaltung. Für
Dresden sind neben den
ausgesprochen aufwendig gestalteten
Menükarten und Einladungen vor allem die überlieferten satirischen
Lieder interessant, die es z. B. in Leipzig nur in der frühen Zeit
gegeben zu haben scheint. Insgesamt unterlag das Festmahl wie jedes
kulturelle Ereignis einer Entwicklung. Ursprünglich in Leipzig „in
der seither üblichen Weise“ jeweils noch laut Einladung als ein
„einfaches Abendessen“ in noblen Lokalen der Stadt abgehalten,
entwickelte sich die „Gelbe Suppe“ im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts zum opulenten Festmahl mit exklusiven Speisen in
mehreren Gängen, einer feststehenden Tisch- und Kleidungsordnung
sowie einem repräsentativen Rahmen und entsprechenden Ambiente wie
Tafelschmuck und Tafelmusik, seit 1909 dann dreimal im Festsaal des
Neuen Rathauses und unter gastronomischer Verantwortung des
Ratskellers. Auch in Dresden und Chemnitz fand das Festmahl nach
Erbauung neuer Rathäuser ab 1910 bzw. 1913 in den dortigen
Festsälen statt – auch hier scheint die Stadt Leipzig wieder der
Anreger für ganz Sachsen gewesen sein.
Ausnahmslos begann das Leipziger Neujahrsfestmahl, dessen festgelegten Preis die Teilnehmer immer selbst bezahlten, mit einer „Gelben Suppe“, angeblich eine Erbsensuppe, die kulinarisch als Auftaktgericht für ein opulentes Festmahl recht außergewöhnlich erscheint, zumindest aber in anderen Festmählern in Leipzig zu der Zeit nicht belegt ist. Für dieses namengebende Auftaktgericht konnten aber bisher leider für keine der Städte mit nachweisbarer Abhaltung irgendwelche genauere Hinweise ermittelt werden, wie diese „Gelbe Suppe“ schmeckte und woraus sie bestand. Für Dresden ist zumindest für 1894 überliefert, dass die „Gelbe Suppe“ mit Spargel und Morcheln gereicht wurde, 1913 aber als „Erbsensuppe mit Schweinsohren“ – so auch in Chemnitz für 1913 und für Leipzig 1887/88. Im Bericht zum Festmahl vom 3. Januar 1889 in Leipzig erscheint im Bericht des „Leipziger Tageblattes“ vom Folgetag der sonst nicht wieder explizit zu findende Hinweis: „[…] die gelbe Suppe erschien diesmal in Form einer würzigen Crécy-Suppe“. Damit ist eine gelbliche Karottencremesuppe gemeint. Eines ist naheliegend: Name und Rezept waren den Zeitgenossen offensichtlich so selbstverständlich, dass es niemand für erforderlich hielt, in den Quellen nähere Ausführungen dazu zu machen ...
Die zur Information
und Einstimmung auf den Tischen platzierten Menükarten sind nur
selten überliefert. Es waren aber stets mehrgängige Festmähler
großbürgerlichen Zuschnitts, also kulinarische Erlebnisse hohen
Ranges, wie besonders das Leipziger Beispiel für 1911 bezeugt:
Gelbe
Suppe / Kalbsrücken mit feinen Gemüsen / Frische Hummern mit
Kräutertunke / Hamburger Huhn getrüffelt, Salat Dünstobst /
Plumpudding.
Während die Tradition in Leipzig 1913 ihr Ende fand,
ist sie nach 1918 für Dresden bis 1927 und in Chemnitz immerhin bis
1922 belegt, darüber hinaus vor dem Ersten Weltkrieg auch in
weiteren sächsischen Städten wie Wurzen, Mittweida, Plauen,
Willsdruff und Freiberg, hier sogar bis 1930/36.
Das einst so bedeutende Festmahl und ganz speziell sein Auftaktgericht sollte dem Vergessen wieder entrissen werden. Auch heute noch darf die gelbe Suppe nicht fehlen, hieß es im „Leipziger Tageblatt“ vom 4. Januar 1893. Schön wäre es, wenn die sächsischen Gastronomen bald auch wieder so denken würden …. Aus diesem Grund machte Slowfood Deutschland und speziell das Convivium Leipzig-Merseburg auf dem Deutschen Katholikentag 2016 in Leipzig auf dieses besondere Suppengericht aufmerksam.
Literatur:
Annemarie
Niering, „Gelbe Suppe“ – das Jahresabschlussessen der
Dresdener Stadtverordneten und des Dresdener Rates, in: Josef
Matzerath und Annemarie Niering (Hg.), Tafelkultur – Dresden um
1900, Ostfildern 2013, S. 162-181 (mit zahlreichen Abbildungen von
Quellen und Objekten zum Thema).
Andreas
Schneider, Das Festmahl der „Gelben Suppe“. Eine
(groß-)bürgerliche Brauchpraxis Leipziger Demokratiekultur vor dem
Ersten Weltkrieg, in: Leipziger Almanach 2011/12. Informationen -
Kalendarien - Aufsätze, Leipzig 2012, S. 251-275.
Herbert
Pilz, Wohl bekomm‘s und guten Appetit. Leipziger
Gastronomiegeschichte(n), Leipzig 2011, S. 85 und 87.
Andreas
Them, Gasthausgeschichten aus dem alten Dresden, Edition Sächsische
Zeitung Dresden 2010, S. 89-94.
Andreas Schneider, Ritual der
Gestaltungsmacht. Die Leipziger Stadteliten und ihr Festmahl der
„Gelben Suppe“ – eine sächsische Besonderheit
großbürgerlicher Repräsentationskultur vor dem Ersten Weltkrieg
(in Vorbereitung).