Erzähle nicht leicht Anekdoten, besonders nie solche, die irgend jemand in ein nachteiliges Licht setzen, auf bloßes Hörensagen nach! Sehr oft sind sie gar nicht auf Wahrheit gegründet oder schon durch so viele Hände gegangen, dass sie wenigstens vergrößert, verstümmelt worden, und dadurch eine wesentlich andre Gestalt bekommen haben. Vielfältig kann man dadurch unschuldigen guten Leuten ernstlich schaden und noch öfter sich selber großen Verdruss zu ziehn.
Hüte Dich, aus einem Hause in das andre Nachrichten zu tragen, vertrauliche Tischreden, Familiengespräche, Bemerkungen, die Du über das häusliche Leben von Leuten, mit welchen Du viel umgehst, gemacht hast, und dergleichen auszuplaudern! Wenn dies auch nicht eigentlich aus Bosheit geschieht, so kann doch eine solche Geschwätzigkeit Misstraun gegen Dich und allerlei Zwist und Verstimmung veranlassen.
Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit und Unfehlbarkeit! Die Menschen beurteilen und richten Dich nach dem Maßstabe Deiner Prätensionen, und sie sind noch billig, wenn sie nur das tun, wenn sie Dir nicht Prätensionen aufbürden. Dann heißt es, wenn Du auch nur des kleinsten Fehlers Dich schuldig machst: »Einem solchen Manne ist das gar nicht zu verzeihn«; und da die Schwachen sich ohnehin ein Fest daraus machen, an einem Menschen, der sich verdunkelt, Mängel zu entdecken, so wird Dir ein einziger Fehltritt höher angerechnet als andern ein ganzes Register von Bosheiten und Pinseleien.
Sei aber nicht gar zu sehr ein Sklave der Meinungen andrer von Dir! Sei selbständig! Was kümmert Dich am Ende das Urteil der ganzen Welt, wenn Du tust, was du sollst? Und was ist Deine ganze Garderobe von äußern Tugenden wert, wenn Du diesen Flitterputz nur über ein schwaches, niedriges Herz hängst, um in Gesellschaften Staat damit zu machen?
Sei vorsichtig im Tadel und Widerspruch! Es gibt wenig Dinge in der Welt, die nicht zwei Seiten haben. Vorurteile verdunkeln oft die Augen selbst des klügeren Mannes, und es ist sehr schwer, sich gänzlich an eines andern Stelle zu denken. Urteile besonders nicht so leicht über kluger Leute Handlungen, oder Deine Bescheidenheit müßte Dir sagen, daß Du noch weiser wie sie seist! und da ist es denn eine mißliche Sache um diese Überzeugung. Ein kluger Mann ist mehrenteils lebhafter als ein andrer, hat heftigere Leidenschaften zu bekämpfen, bekümmert sich weniger um das Urteil des großen Haufens, hält es weniger der Mühe wert, sein gutes Gewissen durch große Apologien zu rechtfertigen. Übrigens soll man nur fragen: »Was tut der Mann Nützliches für andre?« und wenn er dergleichen tut, über dies Gute die kleinen leidenschaftlichen Fehler, die nur ihm selber schaden oder höchstens unwichtigen, vorübergehenden Nachteil wirken, vergessen.
Vor allen Dingen maße Dir nicht an, die Bewegungsgründe zu jeder guten Handlung abwägen zu wollen! Bei einer solchen Rechnung würden vielleicht manche Deiner eigenen großen Taten verzweifelt klein erscheinen. Jedes Gute muss nach seiner Wirkung für die Welt beurteilt werden.