Wer im sächsischen Erzgebirge unterwegs ist, muss irgendwann auf ihn treffen – in Scharfenstein/Erzgebirge mit seiner imposanten Burg sogar „leibhaftig“ als Touristenattraktion: auf den Stülpner Karl, wie die Einheimischen sagen, den Tausendsassa mit der stattlichen Figur, den edlen Räuber und Wildschütz aus dem 18./19. Jahrhundert, den sie noch immer als einen der ihren verehren, als eine Art „sächsischer Robin Hood“, obwohl er 2016 nun schon genau 175 Jahre tot ist; sein vom Erzgebirgsverein gepflegtes Grab in Großolbersdorf, einem Ort zwischen Zschopau und Wolkenstein, zieren selbst heute noch immer wieder frische Blumen …
In Scharfenstein wurde er unter dem Namen Carl Heinrich Stilpner am 30. September 1762 geboren, also noch vor Ende des Siebenjährigen Krieges, in einem Grundstück im „Gänsewinkel“, am Fuße des Burgberges am Ufer der Zschopau, und hier verstarb er auch, am 24. September 1841, in einem auf der anderen Seite unterhalb der Burg gelegenen Grundstück, nicht einmal einen Steinwurf entfernt vom ehemaligen Geburtshaus. Sowohl das Grundstück, in dem er geboren wurde und das er später auch einmal selbst besaß, als auch jenes, in dem er starb, ist im Ort noch zu finden und dies wird auch dem Wanderer im Zschopautal durch Hinweistafeln kenntlich gemacht, dem neugierigen Besucher ebenso wie dem kundigen Einheimischen. Stülpner wuchs als achtes Kind in schwierigen Verhältnissen auf, in der Familie eines bitterarmen Tagelöhners, Mühlknechts und Landarbeiters. Sein Geburtshaus existiert allerdings schon seit 1782 nicht mehr. Da sein Vater frühzeitig, 1770, vermutlich an den Folgen einer Brustentzündung verstarb, kam Stülpner 1772 für zwei Jahre in die Obhut des Försters Müller in Ehrenfriedersdorf nahe der Greifensteine. Hier wurde seine Jagdleidenschaft geweckt; hier festigte sich für Stülpner das, was wir heute Berufsorientierung nennen. Das Erzgebirge, noch weit entfernt von seiner späteren Rolle als Touristen- und Urlaubermagnet, war zu jener Zeit im Wesentlichen ein Gebiet heftiger Armut in Sachsen, besonders 1771/1772, als durch witterungsbedingte Missernten eine schwere Hungersnot herrschte. Da fiel es einem Jungen aus unbemittelten Verhältnissen schwer, sich dem Werben des Militärs zu entziehen, zumal er nicht wie andere reichere Bürgers- und Bauernsöhne von der Obrigkeit als „unabkömmlich“ eingeschätzt wurde. So soll Stülpner laut seinen eigenen Angaben noch vor seinem vollendeten 16. Lebensjahr in Dresden als „Trainsoldat“ eingezogen und 1778/79 als Troßknecht am sogenannten Bayrischen Erbfolgekrieg teilgenommen haben.
Kaum war er wieder zurück in Scharfenstein, forderte ihn im Januar 1780 schon wieder das Militär. Notgedrungen ließ sich Stülpner als „kursächsischer Soldat“ anwerben, mit Verpflichtung auf eine achtjährige Dienstzeit; er diente fortan als „Musketier“ im kursächsischen Infanterieregiment Prinz Maximilian in Chemnitz. Hier konnte er sich mit seiner Jagdleidenschaft hervortun – als guter Schütze sorgte er für größere Abwechslung in der Offiziersküche. In dieser Zeit begann er auch schon zu „wildern“, also die Grenzen des zugewiesenen Reviers zu überschreiten, was zunächst noch unbemerkt bzw. ungestraft blieb – seine Vorgesetzten duldeten es, profitierten sie doch selbst von der Bereicherung ihrer Speisetafel. Im November 1784 wurde Stülpner aber deshalb in die 2. Grenadierkompanie nach Zschopau versetzt und 1785 nach Chemnitz. In den Akten belegt ist ein Streit Stülpners mit einem Beamten und Jäger im Zschopauer Revier, der ihm eine Arrestierung einbrachte. Auf dem Rückweg aus einem Gewahrsam im Lager Mühlberg desertierte er am 3. Juli 1785 nahe Döbeln, um der Festungshaft zu entgehen. Stülpner schlug sich bis Scharfenstein durch. Aber hier, wo ihn jeder kannte, konnte der Desertierte natürlich nicht bleiben. Eine langjährige rastlose Flucht begann, die Stülpner über Böhmen, Österreich und die Schweiz bis nach Ungarn geführt haben soll. Um 1789 wagte sich Stülpner nach Deutschland zurück; er fiel preußischen Werbern in die Hände, die ihn wieder in die Armee zwangen, nun als Soldat in den Koalitionskriegen gegen das revolutionäre Frankreich.
Nach einer Verwundung desertierte Stülpner abermals; Ostern 1794 wurde er in seiner Heimat wahrgenommen, in der Gegend von Scharfenstein. Nun begann seine „große“ Zeit, er wurde ein „Sohn der Wälder“ und lebte fortan als Wilddieb, zeitweise allein, zumeist aber als tolldreister Anführer einer verwegenen Wildschützenschar – sechs lange Jahre, von 1794 bis 1800, die seinen legendären Ruhm begründen sollten. Denn Stülpner, der Wilderer in den erzgebirgisch-böhmischen Grenzwäldern, wurde nie gefasst; er konnte sich auf die Sympathien der armen Erzgebirgler verlassen. Für sie verkörperte der frei jagende Rebell den Widerstand gegen die Obrigkeit und ihr angestammtes Jagdrecht, dem er manches Schnippchen schlug.
Schon 1794 hatte Stülpner in Scharfenstein seine große Liebe kennengelernt, Christiane Wolf, Tochter des Ortsrichters. Vermutlich um seiner unehelichen Tochter und seiner Lebensgefährtin ein ruhigeres Leben zu bieten, meldete sich Stülpner schließlich 1800 wieder bei seinem Chemnitzer Regiment. Er erhielt Straffreiheit und die Aussicht auf einen ehrenvollen Abschied sowie eine Erlaubnis zur Heirat – was sich aber beides hinzog, immer wieder. Als preußischer Soldat musste Stülpner die Kriege gegen Napoleon I. miterleben, u. a. 1806 die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt. Im Mai 1807 desertierte Stülpner wieder, nach Böhmen, und heiratete dort endlich seine Christiane, die ihm mit der Tochter gefolgt war. Obwohl Stülpner 1813 wie viele andere auch durch den großen sächsischen Generalpardon begnadigt worden war, gelang ihm, in seine Heimat zurückgekehrt, kein „bürgerliches“ Leben. Er lebte danach zeitweise wieder im Böhmischen, wo seine Frau 1820 verstarb. Zwei Jahre später heiratete er wieder, aber die Ehe hielt trotz zweier Söhne nicht. Im Alter von 72 Jahren wurde Stülpner, inzwischen schon am Grauen Star erkrankt, 1835 nochmals Vater. Zuletzt war er ab 1839 als Mittelloser, nahezu erblindet, in seinem Geburtsort Scharfenstein von der Gnade seiner Mitmenschen abhängig – seinen Lebensunterhalt erhielt er entsprechend der damaligen „Ordnung“ von der Gemeinde: Er wurde „alle acht Tage von Hauß zu Hauß“ geschickt, wo „ein jeder Hauswirth“ ihn beköstigen musste, bis er schließlich an Entkräftung starb. Drei Tage nach seinem Tod in Scharfenstein wurde Stülpner am 27. September 1841 auf dem Friedhof im nahen Großolbersdorf beerdigt – im selben Ort, wo er bis zur Konfirmation 1776 zur Schule gegangen war. Insgesamt hatte Stülpner 6 Nachkommen.
Heute ist oft nicht mehr leicht zu trennen, was an Karl Stülpners Leben Fabel ist und was verbürgerter Fakt – das dürfte letztlich aber nicht so wichtig sein; das Nachleben erscheint bedeutsamer als die Biografie.
Die Verklärung begann schon zu Lebzeiten, durch viele Sagen und Legenden und sicher auch den Umstand, dass er nie gefasst wurde. Gedruckt erschien eine erste Sammlung von Episoden über den „berüchtigten Wildschütz“ schon 1812 als Serie in den „Freyberger gemeinnützigen Nachrichten“. Der Autor, der sächsische Offizier Friedrich von Sydow (1780-1845), bemüht um eine relativ sachliche Darstellung des edlen und in seiner Sicht durch den Armeedienst geläuterten Räubers, dürfte Stülpner zumindest namentlich gekannt haben, war er doch ebenfalls in mehreren Erzgebirgsstädten stationiert. Diese Artikel formten den Grundstein der Stülpner-Saga, die Sydow 1835 zum noch starker fantastisch angelegten „biographischen Gemählde“ ausbaute, obwohl er seinen Roman im Untertitel als „der Wahrheit treu angelegt“ ausgab. Weitere Anekdoten lieferte ein Aufsatz des Carlsfelder Pfarrers Christian Gottlieb Wild (1785-1839), zugleich Begründer der neuen erzgebirgischen Mundartdichtung, der Karl Stülpner 1816 in der Leipziger „Neuen Jugendzeitung“ bewusst als einen „merkwürdigen Wildschütz“ darstellte. Gegen Sydows Roman von 1832 startete Stülpner selbst insofern 1835 eine Art Gegendarstellung, als er mit Hilfe des Verlegers Carl Heinrich Wilhelm Schönberg eine neue Darstellung von „Carl Stülpner's merkwürdigs Leben und Abenteuer“ über Subskription verbreiten ließ. Sie wurde quasi zum Musterbuch für alles, was seit dem über Stülpner geschrieben wurde und ist heute relativ leicht online zugänglich. Für Leipzig ist belegt, dass Stülpner es im August 1835 in grüner Jägermontur und großem Knotenstock auf der Messe im Hausierhandel selbst anbot – und abends in den Gaststäten seine Geschichten zum Besten gab. Doch Stülpners Hoffnung, mit Hilfe des Buches seine inzwischen schwierige finanzielle Situation zu verbessern, scheiterte – es wurde sofort von der Leipziger Polizei angezeigt und vom Innenministerium per Verordnung vom 20. August 1835 für Sachsen als gefährlich für die Jugend verboten. Da die Identität des Verlegers Schönberg zudem nie wirklich geklärt wurde, ist die Vermutung mancher Forscher nicht ganz unberechtigt, dass Stülpner selbst dahinter stecken könnte.
Reich wurden allerdings andere mit der Stülpner-Saga: In den 1850er- und 1860er-Jahren überschwemmten kolportagehafte Groschenromane und Abenteuergeschichten den Markt, mit denen die Schreiber ordentlich Kasse machten. Auf Basis des Schönbergschen Buches lieferte 1887 der Heimatforscher Hermann Lungwitz (1845-1927) „Altes und Neues über Karl Stülpner“ und schuf den Topos des „Sohnes der Wälder“. Ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckte der aufkommende Tourismus die Vermarktungsfigur Stülpner: In der Nähe der Greifensteine bei Ehrenfriedersdorf wurde eine ehemalige Anbruchstelle des Bergbaues auf Zinnerz zur „Stülpnerhöhle“ und mit der Legende verbunden, Stülpner habe sie zeitweilig als Versteck genutzt; eine Hinweistafel erklärt heute die fragliche Namensgebung. Doch alle Versuche, Fiktion und Realität zu trennen, bleiben bei der inzwischen auf mehr als 100 Veröffentlichungen angewachsenen Stülpner-Literatur ein mühsames Unterfangen. Verdient gemacht um die Unterscheidung von „Legende und Wirklichkeit“ hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem der Lehrer und Heimatforscher Johannes Pietzonka (1905-1989) in Großolbersdorf, der für seine mehrfach ergänzte Darstellung aufwendige Quellenstudien in den Kirchenbüchern des Erzgebirges und im Sächsischen Landes- und Staatsarchiv Dresden betrieb. Doch der Mythos vom Anwalt der Armen währt fort – und nicht nur der „Karl-Stülpner-Weg“ hoch hinauf zur Burg in Scharfenstein erinnert noch heute daran ...
Friedrich von Sydow, Der berüchtigte Wildschütz des sächsischen Erzgebirges, Carl Stülpner. Ein biographisches Gemählde, der Wahrheit treu angelegt und mit romantischen Farben ausgemahlt, Sondershausen 1832
Carl Heinrich Wilhelm Schönberg, Carl Stülpner's merkwürdigs Leben und Abenteuer, Zschopau 1835
Max Wenzel, Der Stülpner Karl. Die Geschichte des erzgebirgischen Wildschützen, Chemnitz 1923, Nachdruck Leipzig 1997
Kurt Arnold Findeisen, Der Sohn der Wälder. Der Lebensroman des Raubschützen Karl Stülpner, Leipzig 1934 (bis immer wieder neu aufgelegt)
Johnannes Pietzonka, Der Wildschütz Karl Stülpner. Legende und Wirklichkeit, Erstveröffentlichung 1963, vierte Auflage 1981; Neuausgabe Leipzig 1992, 2. Auflage 1998
Karl Sewart, Mich schießt keiner tot. Die Geschichte des Volkshelden Karl Stülpner, Chemnitz 1994
Lars Anne Danneberg, Karl Stülpner und Johann Karasek, in: Matthias Donath und André Thieme, Sächsische Mythen. Menschen, Orte, Ereignisse, Leipzig 2011, S. 204-213
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