Die Kleinstadt Gröbzig, zwischen Sachsen und Preußen gelegen, bot den jüdischen Händlern einen günstigen Ausgangspunkt für ihre Geschäftsreisen. Vor allem der Weg zur Leipziger Messe war für die Kaufleute nicht all zu weit. In Gröbzig im Fuhnetal wird am 16. Mai 1823 der bedeutende Philologe und Philosoph Chajim (Heymann) Steinthal geboren. Sein Geburtshaus war, so Fritz A. Jahrmarkt 1 , ein „winziges, unansehnliches einstöckiges Haus, dennoch imposant für Gröbziger Verhältnisse".
Chajims Vater, David Steinthal (1790-1832), führte in diesem Gebäude ein Geschäft. Die zwei kleinen Fenster zur Straßenseite erweiterte er zu einem großen und gestaltete auf diese Weise das erste Schaufenster in der Stadt Gröbzig. Über diesem Fenster befand sich ein Schild mit der Aufschrift: David Steinthal - „Manufaktur-, Weiss - und Wollwaren“. Der Vater hatte also ein Geschäft, in dem er Stoffe verkaufte, die nach den Wünschen der Käufer abgemessen und abgeschnitten wurde, dazu Unterwäsche und Wollwaren aller Art. David Steinthal war kein armer Mann und in der jüdischen Gemeinde sehr geachtet. Sein Vater Michael (Jechiel) Steinthal (Reb‘ Jehel) wurde 1729 in Gröbzig geboren und war in der Gemeinde sehr anerkannt.
Ehe wir uns dem bedeutendsten Sohn Gröbzigs zuwenden, müssen wir das jüdische Leben in dieser Stadt etwas näher kennenlernen:
Nach dem Ende des 17. Jahrhunderts hatten die Anhalter Regenten in ihrem „Ländle“ günstigere Lebens- und Wirtschaftsbedingungen für Juden geschaffen, siedelten sich mehr und mehr jüdische Familien in Gröbzig an. Waren es im Jahr 1713 nur drei Familien, so zählte man 50 Jahre später bereits 40 jüdische Familien in der Stadt, das waren immerhin 15% der Einwohner. Zur Gemeinde gehörten Juden aus ganz unterschiedlichen deutschen Ländern , z. B. aus Preußen, Hessen, Sachsen, Böhmen. Die Schutzjuden in Gröbzig hatten jährlich 10 Taler Schutzgeld zu zahlen.
Chajims Großvater gehörte zu den sog. Gröbziger Messjuden, die in Leipzig Handel trieben. Unter den dortigen Juden gab es zum Teil vermögende Kaufleute, aber auch Kleinhändler, Viehhändler, dazu einen Arzt, einen Schulmeister und einen Schächter. Die Juden wohnten vor allem in der Langen Straße und am Markt. Erstaunlicher Weise war es den Juden in Gröbzig möglich, ihren Wohnsitz in der Stadt frei zu wählen. Sie besaßen Häuser, konnten Geschäfte und Läden betreiben, nur ein Handwerk auszuüben, war ihnen untersagt wie auch die Arbeit in einer Manufaktur, aber im Zuge der napoleonischen Kriege wurden auch diese Beschränkungen aufgehoben. 2
Doch nun zur Familie Steinthal:
Chajims
Vater, David Steinthal, starb 1832 im Alter von 42 Jahren. Seine Frau
Henriette (Kietchen 3)
führte nun den Laden weiter, wobei Eduard, ihr ältester Sohn, half.
Der war gerade mal 12 Jahre alt. Aber Henriette Steinthal musste das
Geschäft schließen, da ihre Schuldner den Zahlungsverpflichtungen
nicht nachkamen. Sie und ihre Kinder lebten ab jetzt in ärmlichen
Verhältnissen. Über die Kindheit Chajim Steinthals ist nur wenig
bekannt. In zwei Aufsätzen berichtet zwar der greise Steinthal über
die Schule und über die Synagoge seiner Geburtsstadt, aber kaum über
sich selbst.
In
seiner Schrift „Die jüdische Volksschule in Anhalt von 1830-1840“4
geht
es um die Schule und den Unterricht, wie er sie zu seiner Zeit
erlebte. Er erwähnt darin, dass die reichen jüdischen Familien ihre
Kinder durch einen eigenen Hauslehrer unterrichten ließen, die
wohlhabenden Familien gemeinsam einen Lehrer für ihre Kinder
finanzierten, dessen Unterricht auch die Kinder der armen Familien
besuchten. Das nötige Schulgeld für die armen Schüler brachte ein
Verein (Chewro) der Judengemeinde auf, der für die Unterstützung
armer Juden zu sorgen hatte. Die meisten jüdischen Männer in
Gröbzig - so Steinthal - konnten Deutsch schreiben und lesen und
natürlich auch rechnen. Einige Juden, unter anderen auch Chajims
Vater David, beherrschten sogar die französische Sprache. Steinthal
berichtet auch, dass auf Befehl der Regierung die anhaltinischen jüdischen
Landgemeinden ihre polnischen Lehrer (wegen mangelnder Bildung) zu
entlassen hatten und stattdessen Lehrer anstellen mussten, die an der
renommierten Dessauer (jüdischen) Franzschule ausgebildet worden
waren. 5
Für
den weiteren Lebensweg Chahim Steinthals war der Lehrer Baruch
Herzfeld wichtig. Das war ein begabter junger Mann, der sich sowohl
im Talmud auskannte, aber auch Deutsch und Französisch unterrichten
konnte und auch ein wenig Englisch beherrschte. Er kannte sich auch
in Geographie und Geschichte aus. Bei besonderen Anlässen predigte
er sogar in der Synagoge. Kurios: Seine Predigten legte er vorher dem
evangelischen Pfarrer zur Durchsicht vor. Der Pfarrer beherrschte die
hebräische Sprache ganz
gut und war mit zwei gelehrten Juden der Stadt eng befreundet.
Lehrer Herzfeld erhielt für seine Tätigkeit 60 Taler jährliches
(!) Gehalt. Weil er davon weder leben noch sterben konnte, hatten ihn
jüdische Familien zum Mittags - Freitisch einzuladen. Später
erhielt er 100 Taler und als er zusätzlich das Amt des
Gemeindesekretärs übernahm, erhöhte man sein Gehalt auf 150 Taler.
Im Mohel - Buch (Mohel = Beschneider) waren die Namen der jüdisch
Knaben und die der Eltern verzeichnet, doch die Mädchen wurden nicht
amtlich registriert. Das änderte der neue Gemeindesekretär
Herzfeld.
Chaim
Steinthal berichtet in seinen Jugenderinnerungen: Der Schulunterricht
fand in einem einzigen Raum statt, der nur kahle weißgetünchte
Wände hatte. Es gab aber eine schwarze Tafel. Die Jungen im Alter
zwischen 6 und 13 Jahren saßen an einem längeren Tisch,
die Mädchen an einem kleineren Tisch. Die Jungen wurden mit fünf
oder sechs Jahren eingeschult, die Mädchen ein Jahr später. Sie
verließen aber auch ein Jahr früher die Schule als die Jungen. Der
Lehrer unterrichtete die Schüler in Hebräisch, Deutsch, Geschichte,
Geographie und Rechnen. Lehrer Herzfeld achtete darauf, dass seine Schüler
korrektes Deutsch sprachen, doch dies taten sie nur in der Schule.
Außerhalb der Schule benutzten sie einen eigenen Dialekt, der sich
auch vom „Mauscheln“ (Jiddisch sprechen) ihrer Eltern
unterschied. Im Sommer wurde von 8 bis 12 Uhr unterrichtet und von 13
bis 17 Uhr. (Im Winter war Unterrichtszeit von 9 – 12 und von 13
bis 16 Uhr.) Da
ein Lehrer nicht in der Lage war, acht Stunden konzentriert mit den
Schülern zu arbeiten, gab es mancherlei Leerlauf, wo die Schüler
miteinander schwatzten oder sich sonst irgendwie beschäftigten.
Um
Pessach herum fand ein öffentliches „Examen“ statt, zu dem die
Eltern, die Gemeindeältesten, der evangelische Pfarrer und der
Justizamtmann anwesend waren. Der Justizamtmann prüfte das Wissen
aus der alten Geschichte, der Pfarrer das aus der neuen Geschichte
und die naturkundlichen Kenntnisse. Natürlich wurden auch Hebräisch, Deutsch
und Rechnen geprüft. Einige Knaben mussten Gedichte aufsagen (vor
allen Gedichte von Christian Fürchtegott Gellert (1717-1769 oder
Gottlieb Konrad Pfeffel (1736-1809)). 1842 wurde die jüdische
Schule in Gröbzig aufgelöst. Die jüdischen Kinder hatten
nun die allgemeine Stadtschule zu besuchen.
Neben der Schule war für Chajim Steinthal - wie auch für die anderen Knaben jüdischen Glaubens - die Synagoge wichtig: „Die Synagoge“, so Steinthal in seinen Jugenderinnerungen, war „nächst der Kirche das höchste Gebäude des Städtchens, sie ragte über alle Häuser ... kein Knabe konnte einen Ball über sie hinweg werfen ... Sie trägt von außen kein Symbol; ganz oben auf dem Dach befindet sich aber eine Wetterfahne, welche in durchbrochenen Buchstaben das Jahr der Erbauung angibt. Die Mauern sind sehr dick, wie für die Ewigkeit bestimmt.“ ... „Man schließt die Tür auf, nachdem man mit dem Schlüssel dreimal anklopft, um dem Heiligtum seine Ankunft zu melden. Man tritt ein, indem man eine Stufe niedersteigt ... Die Frauen finden ihren Platz auf einer Galerie an der Westseite; ein Gitter verbirgt sie, während sie durch dasselbe alles überschauen können. Die Decke ist hochgewölbt, von Holz, bemalt mit vereinzelten sehr dunklen, schweres Gewitter dräuenden Wolken, zwischen denen im blauen Himmel sich Sterne zeigen.“
Die
Synagoge, ein klassizistischer Sakralbau, wurde in der 2. Hälfte des
18. Jahrhunderts errichtet und 1858 umgebaut. Im Zuge des Umbaus
schuf man die Frauenempore und die Kanzel. Über dem Eingang stand in
hebräischer Sprache der Satz: „Dies ist die Pforte des Ewigen,
Gerechte treten da ein.“ (Psalm 118,20) . Der Chasan, der Vorsänger
der Gemeinde in Gröbzig, war zu Steinthals Zeit ein Reb Hirsch, der
mit seinem Gesang den jungen Steinthal so tief beeindruckte, dass ihn
die jüdischen Melodien bis ins Alter zu einer glücklichen,
gesuchten Einsamkeit führten, die ihm half, Phasen der Melancholie
zu überwinden. 7
Ein
Gemeindehaus wurde 1832 errichtet. 1858 kaufte man die nebenan
befindliche Schmiede, um ein Zentrum der israelitischen Kultgemeinde
bauen zu können. Die
Geschichte der Gröbziger Synagoge, die noch heute besichtigt werden
kann, ist außergewöhnlich, darum sei an dieser Stelle Folgendes
erwähnt:
Die
Synagoge und das sie umgebende Ensemble wurden durch die Nazis nicht
zerstört. Das hatte folgenden Grund: Ab 1871 verringerte sich die
Zahl der Gemeindeglieder drastisch, da Juden nun in jeder beliebigen
Stadt wohnen konnten. Der Wohnsitz in einer großen Stadt war für
sie wirtschaftlich günstiger als der in einem kleinen Städtchen wie
Gröbzig. Im Jahre 1903 hatte der Ort 2001 Einwohner, darunter nur
noch 39 jüdische Bürger. 1934 übergab darum die jüdische Gemeinde
die Synagoge der Stadt Gröbzig zur musealen Nutzung. (Ob freiwillig,
oder unter einem gewissen Druck, ist heute kaum noch zu klären.)
Verwalter des Museums wurde der Friseurmeister Friedrich Fuchs. Der
ging 1939, nachdem die letzten Juden die Stadt verlassen hatten,
durch deren
ehemaligen Häuser, um Gegenstände aus jüdischem Besitz in sein
Museum zu bringen. Er verstand dies als „Bergungsakt“. Fuchs
hatte sich bereits 1933 dafür ingesetzt,
in der Synagoge ein Museum zu etablieren 8
.
Als 1938 SA / SS Leute aus Köthen nach Gröbzig kamen, um auch hier
die Synagoge in Brand zu stecken, konnte dies der Bürgermeister
verhindern, da es sich um städtischen Besitz handelte. Er sorgte
aber dafür, dass alle Symbole und Sprüche, die auf Juden hinwiesen,
beseitigt wurden. Am 1. 10. 1940 meldete er an den Landrat von
Köthen, dass Gröbzig judenfrei sei.
Zwischen 1984 und 1988 wurde die Synode rekonstruiert und restauriert.
Doch zurück zu dem jungen Steinthal:
Im
Jahr 1836 wird Steinthal Schüler des Carlsgymnasiums in Bernburg.
Direktor Herzog setzt den geistig reifen Jungen sofort in die Quarta,
obwohl der weder Griechisch noch Latein konnte. In Privatstunden holt
Chaim das Fehlende so schnell nach, so dass er nach sechs Monaten als
regulärer Schüler die Schule besuchen konnte.
In
Bernburg lebt ein entfernter Verwandter von Chaim. Bei ihm kann der
Junge wohnen, außerdem zahlt dieser Onkel die Schulgelder für den
mittellosen Knaben. Steinthal berichtet später, dass der Onkel ein
großer Verehrer Napoleons war. Der Schüler Chajim hatte bisher nur
„mit Gruseln“ von Napoleons Kriegen gehört, wie „die
Franzosen, die schwedische Löffel – Garde 9
und
die Kosaken überall geplündert hatten.“ Eines Tages fragte er den
Onkel „warum habt ihr Napoleon so lieb?“ Und der antwortete:
„Mein Sohn. Das kannst du nicht wissen, du bist zu jung, du weißt nicht, wie es vor Napoleon war; aber ich weiß das. Wenn ich nach Bernburg gegangen bin und bin an die Brücke über die Saale gekommen, dann war da geschrieben: Vieh und Juden zahlen einen Brücken - Zoll. Meinst du, das hat mich nicht jedes Mal verdrossen? 1806 nach der Schlacht bei Jena hat das mit einem mal aufgehört. Wie Napoleon da war, da war alles vorbei.“ Und Steinthal fügt dem Bericht hinzu: „Das war mir verständlich, und hat mich doch nicht mit Napoleon befreundet.“ 10
Neben dem Gymnasium besucht Steinthal eine jüdische Religionsschule, die von Salomon Herxheimer geleitet wurde. Dieser unterrichtet Steinthal und andere talentierte Jungen in Hebräisch und im Talmud. 11
Im Jahr 1842 legt Chaim das Abitur ab. Zur Abiturfeier hält er einen Vortrag über Shakespeares „Romeo und Julia“ in englischer Sprache. Ursprünglich hatte er vor, Theologie zu studieren, doch als er sich Ostern 1843 an der Universität Berlin immatrikuliert, beginnt er mit dem Studium der Sprachwissenschaft. Das liegt nahe, denn der junge Mann ist ein Sprachgenie. Staunend liest man, dass Steinthal zum Beispiel Vorlesungen und Seminare über Altslawisch, Persisch, Chinesisch, Türkisch, Mongolisch, Tibetisch, Japanisch besuchte. Er soll sich in 24 Sprachen ausgekannt haben. Auch Vorlesungen über Logik, Metaphysik, Psychologie und Philosophie gehören zu seinem Programm. Man meint, der junge Mann müsse 24 Stunden am Tage gearbeitet haben. Doch finanziell geht es ihm sehr schlecht. Er ist gezwungen, das trockene Brot für seine Mahlzeiten ganz sorgfältig einzuteilen.
Im Jahr 1847 promoviert Steinthal zum Doktor phil. an der Universität in Tübingen mit einer Arbeit über das Relativpronomen. 1847/1848 hört er in Berlin Vorlesungen des Altphilologen und Sprachwissenschaftlers Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855). (Dieser war übrigens, bevor er Professor wurde, eine Zeit lang Erzieher Mendelssohn – Bartholdys.) Steinthal war mit dem 26 Jahre älteren Professor besonders in dessen letzten Lebensjahren so verbunden, dass Heyse an Steinthal wie „an einem zweiten Sohn“ hing, so formulierte es der Sohn Paul Heyse (1830 –1914), der Schriftsteller und Nobelpreisträger, der mit Steinthal befreundet war. Durch Paul Heyse lernt Steintahl den Psychologen Moritz (Moses) Lazarus kennen. 1849 habilitiert Steinthal sich an der Berliner Universität mit einer Arbeit über Wilhelm von Humboldt (1767-1835). Der Titel dieser Schrift lautet: „Die Sprachwissenschaft Wilhelm von Humboldts und die Hegelsche Philosophie.“ 1851 lernt Steinthal den Philosophen und Historiker Moritz Lazarus (1824- 1903) kennen. Beide freunden sich an und gründen 1860 miteinander die „Zeitschrift für Völkerkunde“. Zu dieser Zeit ist Lazarus bereits Honorarprofessor in Bern. 1861 heiratet Heymann Steinthal Jeanette Lazarus (1840 – 1925), die Schwester seines Freundes. Moritz und Jeanette Lazarus stammen aus Filehne (heute Wielyn in der Wojewodschaft Großpolen), der kleinen Stadt auf einer Insel der Netze. Reich ist die Familie Lazarus in Filehne nicht. Und die Verbindung Jeanettes mit dem 17 Jahre älteren Heymann Steinthal war nun wirklich keine „reiche Heirat“. Ihr Mann hält als Privatdozent unter anderem Vorlesungen über chinesische Texte und 12 chinesische Grammatik, allgemeine Grammatik, vergleichende Mythologie und Geschichte der epischen Poesie.
Die Zahl der Studenten, die seine Kollegs besuchen, ist sicher sehr überschaubar und somit sind dies auch seine Einnahmen. Als Honorarprofessor (ab 1862) hat er nicht viele Hörer. Allein schon „sein Vortrag war äußerlich nicht anziehend“. Steinthal schreibt Bücher, die nur in Fachkreisen als Bestseller gelten. Und da er ein kränklicher Mann ist, fallen Vorlesungen hin und wieder aus, was finanzielle Einbußen zur Folge hatte. Friedrich Paulsen (1846-1908), Pädagoge und Philosoph, zu seiner Zeit einer der einflussreichsten Professoren, schrieb in seinen Lebenserinnerungen 13 über seinen Lehrer Steinthal und dessen Frau:
„Sie (Jeanette) war damals noch eine jugendliche Frau, ... Die Liebenswürdigkeit, mit der sie sich für die persönlichen Angelegenheiten für Heimat und Herkunft, für häusliche Verhältnisse und wissenschaftliche Pläne des Gastes interessierte, die freundliche Art, wie sie ihn zum Sprechen zu bringen und zu hören wusste, nahmen mich ebenso ein, als mir die ganze schlichte Geselligkeit, die den beschränkten Umständen entsprach, zusagte. Ich kam bald als regelmäßiger Gast jeden Dienstag Abend zu ihnen, mit mir Dr. Bruchmnann. Meist waren wir die einzigen Gäste, doch kam später hin und wieder der eine oder andre Schüler Steinthals dazu. An äußeren Genüssen wurde ein Butterbrot und ein Glas Bier geboten, und davon wurde nicht abgegangen, auch wenn einmal ein geehrter Gast... dazukam. Die herzliche Freundlichkeit aber, womit man aufgenommen wurde, die Sorglichkeit, womit die Hausfrau die Wirtin machte, die Behaglichkeit der Plauderei über Tisch, die Intimität des Gesprächs mit dem vielseitigen und tiefen Gelehrten, alles gab diesen schlichten Abenden für uns unvergleichliche Reize.“
Am 14. Mai 1899 stirbt Chajim Steinthal. Er wird auf dem großen jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt, wo sein Grabmal noch heute zu sehen ist. Mit Ehren wurde der bedeutende Forscher nicht gerade überhäuft. Die Königliche Gesellschaft der Wissenschaft Uppsala allerdings machte ihn zu ihrem Mitglied. Zugleich war Steinthal Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften und seit 1883 einer der Direktoren des Deutsch – israelitischen Gemeindebundes. 14
Lange Zeit vergessen, beginnt man sich erst heute wieder für diesen bescheidenen sprachgenialen Mann zu interessieren.
Fußnoten
1 F.A. Jahrmarkt, O. Kappes, Geschichte der Stadt Gröbzig, Heimatverein Gröbzig, 2000
2 Gröbzig – SAXONY – ANHALT (GERMAN)
3 F. A. Jahrmarkt, a. a. O.
4 G. Karpeles (Hg.), Über Juden und Judentum von Prof. Dr. H. Steinthal, Berlin, 1906 S. 289 ff
5 Die Franzschule wurde 1799 in Dessau gegründet, 1801 erhielt sie das fürstliche Privileg als etablierte Freischule, seit 1816 trägt sie den Namen des Fürsten Leopold Friedrich Franz von Dessau. Unter dem Schulleiter Dr. David Fränkel (1779-1865) wurden die Schüler pädagogisch und inhaltlich modern ausgebildet. (Mordechai Eliav, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung, 1960
6 Aus der Synagoge, eine Jugenderinnerung, in: über Juden und Judentum, Vorträge und Aufsätze von Prof. Dr. H.Steinthal, G. Karpeles, (Herausg.), Berlin 1906, S. 298 ff
7
M. Mendez’biographische Vorbemerkung in: Chaim Steinthal ,
herausgeg. von H. Wiedebach
und A. Winkelmann, 2002,
S. 241.
8 J. Hoppe, Jüdische Geschichte und Kultur in Museen, Waxmann, 2002, S. 194
9 Spottname der frz. Infanterie in den Revolutionskriegen, angeblich wegen Tragens des Esslöffels auf der Kopfbedeckung; dann Bezeichnung einer schlecht disziplinierten Truppe überhaupt.
10 Moritz Lazarus und Heymann Steinthal. Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen, I. Belke (Hgn), Band II / 1, Tübingen, 1983, S. 288f
11
Joachim Grossert, Bernburger Juden – Erinnerungen – Mahnungen,
in:
www.mendelssohn-dessau.de
12 M. Holzmann, Steinthal, Chajim H, in: Allgemeine Deutsche Biographie 54 (1908), S. 467-474 (Online Version)
13 F. Paulsen, Aus meinem Leben, Jena 1910, S. 199f
14 Einer der Vorläufer des Zentrates der Juden, gegründet 1869, 1933 aufgelöst
Bildnachweis
Bild 1: Illustration from Brockhaus and Efron Jewish Encyclopedia (1906—1913). Heymann Steinthal 1906 - gemeinfrei
Bilder 3 und 4 aus Wikimedia - gemeinfrei
Bild 2: Marktplatz
in Gröbzig (Stadt Südliches Anhalt)
Urheber |
Bild 5: Grab des Philologen Heymann Steinthal auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee
Urheber |