Jahrelang hatte der Wissenschaftler Tschirnhaus ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu August Hermann Francke in Halle, wie im Übrigen auch zu P.J. Spener in Berlin und andere Pietisten gep?egt. In geistigen Fragen war er eben nach allen Richtungen sehr tolerant veranlagt. Zudem verband ihn mit den Pietisten der Kampf um Toleranz sowie Fortschritt in Wissenschaft und Technik, so dass er sich als weltlicher Pietist betrachten lässt. An pädagogischen Fragen sehr interessiert, arbeitete Tschirnhaus auf diesem Gebiet mit Francke zusammen und brachte ihm insbesondere die Schriften von Cornenius nahe. Im Gegenzug gab der durch Spenden für seine Waisenhaus- und Schuleinrichtung ?nanziell sehr gut ausgestattete Francke großzügig Tschirnhaus mehrere Kredite. Um 1702/03 trübte sich jedoch das Verhältnis zwischen den beiden. Vermutlich lagen die Ursachen darin begründet, dass Tschirnhaus es abgelehnt hatte, an Francke das Geheimnis der Porzellanherstellung zu verkaufen. Eventuell nahm er es Tschirnhaus auch übel, dass er trotz seiner hohen Verschuldung bei ihm sich nicht moralisch verpflichtet sah, sich mehr dem Pietismus zuzuwenden. Trotz der sich anbahnenden Unstimmigkeit zwischen ihnen ließ Tschirnhaus, von der Qualität der Franckischen Lehreinrichtung überzeugt, seinen jüngeren Sohn Georg Friedrich auch danach noch bei ihm in Halle zur Ausbildung.
1704 begann offenbar Francke gezielt einen psychologischen Druck auf Tschirnhaus auszuüben, um endlich zu seinem Ziel zu kommen. Als Kirchenpatron hatte er 1696, vermutlich auf Empfehlung von Francke oder Sperren, in Kieslingswalde einen Pietisten als Pfarrer eingesetzt. Sicher geschah das von Tschirnhaus als Ausdruck seiner großen religiösen Toleranz, vielleicht auch aus Gleichgültigkeit; jedenfalls war es ein schwerer Fehler. Denn jener L.W. Kellner entpuppte sich plötzlich, offenbar von Francke gesteuert, als ein sehr intoleranter, kleinlicher Mensch. Am 12. September 1704 verbot er in einer Predigt in seinem Pfarrbereich alle Tanzvergnügungen und drohte bei Zuwiderhandlung mit strengen Kirchenstrafen. Das war eine offene Kampfansage an Tschirnhaus als Gutsherrn, da ihm die Schenke in Kieslingswalde gehörte. Bei seiner mehr als schlechten Finanzlage konnte er gerade auf die dortigen viel Gewinn abwerfenden Tanzveranstaltungen nicht verzichten. Er erließ darum für die Schenken einen Tanzerlass, der die Weisung des Pfarrers ignorierte. Der reichte die Verfügung zur Prüfung auf seine Zulässigkeit bei der theologischen Fakultät der Universität Halle ein. Da diese von Pietisten beherrscht wurde, fiel das Gutachten natürlich zu Gunsten von Kellner aus. Auf Grund seiner Verschuldung bei Francke wollte und konnte Tschirnhaus es mit ihm nicht ganz verderben. Er minderte darum kompromissbereit 1708 seinen Erlass in der Form ab, dass die Regelung nur die Durchführung von sittlich einwandfreien Tanzveranstaltungen in seiner herrschaftlichen Schenke betraf. Aber auch darauf wollte sich der sehr stark fühlende Pfarrer nicht einlassen. Daraufhin holte Tschirnhaus über die Zulässigkeit von derartigen Veranstaltungen ein amtliches Gutachten beim Landeshauptmann der Oberlausitz ein. Das fiel selbstverständlich zu seinen Gunsten aus. Der Pfarrer gab jedoch nicht nach und begann nun mit persönlichen Angriffen gegen Tschirnhaus und seine Familie. Das ganze zwischenmenschliche Klima zwischen Gutsherrscha? und Kirche war durch den fanatischen Mann auf Jahre in Kieslingswalde gestört worden.
In seiner zweiten Ehe war der Familie Tschirnhaus ein kleines Mädchen, Henriette Sophie, geboren worden. Das verstarb jedoch noch keine sieben Wochen alt. Als 1706 Elisabeth Sophie von Tschirnhaus wieder kurz vor einer Entbindung stand, begab sie sich zu ihren Eltern nach Muhlbach. Vermutlich wollte sie wegen des Kon?iktes ihren fanatischen Pfarrer aus dem Weg gehen, also hier ihr Kind zur Welt bringen und taufen lassen. Am 28. Februar 1707 wurde ein kleiner Junge, Carl Christian, geboren. An den Folgen dieser Geburt starb die Mutter jedoch am 17. März, während der Junge nur ein ¾ Jahr alt wurde. Für Tschirnhaus muss das eine furchtbare Zeit gewesen sein.
Kellner, der nichts von christlicher Nächstenliebe hielt, hatte daraufhin die Dreistigkeit von der Kanzel zu predigen, dass das die Strafe Gottes ?ir Tschirnhaus sei. Immer noch, auf Grund seiner ökonomischen Zwänge gegenüber Francke, auf eine gütliche Einigung hoffend, wandte er sich nun direkt an diesen und bat um Vermittlung im Kon?ikt. Der versuchte daraufhin in den Verhandlungen Tschirnhaus unter Druck zu setzen. Gegen ihn den versteckten Vorwurf erhebend, Spinozist zu sein, wollte er ihn bewegen, sich offen zum Pietismus zu bekennen.
Zu einer Lösung des Problems Kellners sollte es im Übrigen erst nach dem Tod von Tschirnhaus 1708 kommen. Als sein Bankrott beziehungsweise der seiner Erben feststand, war alle Rücksichtnahme auf Francke nicht mehr nötig. Der Bruder von Tschirnhaus, Georg Albrecht, warf als Vormund der Erben und als amtierender Kirchenpatron den streitsüchtigen Pfarrer aus dem Amt. Kellner ging daraufhin nach Halle, wo ihm Francke als Dank für sein Handeln eine Stellung als Preußischer Hofrat vermittelte und er außerdem Pfänder, also Gerichtsbeamter, der Stadt wurde. In diesem Fall hat die Gerechtigkeit also nicht gesiegt.
Wer sich weiterführend für das sehr erfolgreiche, aber auch in mancherlei Hinsicht tragische Leben des großen sächsischen Wissenschaftlers Tschirnhaus interessiert, sollte die im Herbst 2014 vom Dresdner Buchverlag herauskommende Biografie „Das bewunderte, bekämpfte und todgeschwiegene Genie Ehrenfried Walther von Tscihirnhaus " von Hans-Joachim Böttcher lesen!