Urlaub mit dem Reisebüro der DDR
Friedrich Ekkehard Vollbach
Da wir weder Mitglieder des FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) waren, noch in einem volkseigenen Betrieb arbeiteten, konnten wir natürlich in keinem FDGB - Heim oder Betriebsferienheim Urlaub machen. Wir waren auf private Quartiere oder Angebote des Reisebüros der DDR angewiesen. Weil wir im Gebirge wohnten, kamen wir auf die vielleicht nicht so ganz abwegige Idee, den Urlaub im kommenden Sommer an der Ostsee zu verbringen. Natürlich wussten wir, dass es nicht ganz einfach sein wird, einen der sehr begehrten Urlaubsplätze an der Küste zu bekommen. Aber wozu gab es denn ein Reisebüro.
Unsere Recherchen ergaben, dass Ferienplätze an der Ostsee an einem Tag Ende Februar vom Reisebüro unserer Stadt vergeben werden. Und das nach der Devise: zeitiges Kommen sichert gute Plätze. An dem bewussten Tag klingelte mein Wecker früh um drei Uhr. Schlaftrunken angele ich nach meinen Sachen. Ich bemühe mich, meine Frau nicht vollends aufzuwecken, verursache aber doch einen Heidenlärm, weil ich die Socken nicht finde.
Die Morgentoilette wird auf das Nötigste beschränkt. Ich greife meine Tasche und mache mich ohne Frühstück auf den Weg. Wie ich noch etwas müde in die Straße einbiege, in der sich unser Reisebüro befindet, traue ich meinen Augen nicht: dort stehen schon mindestens vierzig „Bürger", die das gleiche im Sinn haben wie ich. Und ich glaubte, der Erste zu sein! Nun stellt sich heraus, ich bin die Nummer 42. Da das Reisebüro erst um 9.00 Uhr öffnet, liegen fünf lange, sehr lange Stunden des Wartens vor mir. Was man doch als Jungvermählter nicht alles auf sich nimmt, um seiner Frau eine Freude zu machen!
Die Kenner der Situation hatten sich eine Sitzgelegenheit und eine Decke mitgebracht. Wir alle haben eine Thermoskanne mit heißem Getränk bei uns. Zeitschriften, Lesehefte, Bücher sollen helfen, die Zeit zu vertreiben. Man kommt miteinander ins Gespräch. Die Schlange mutiert zur Schicksalsgemeinschaft. Ich höre, dass die Ersten bereits um 1.00 Uhr Position bezogen haben.
Reiseerlebnisse aus dem Vorjahr werden zum besten gegeben. Man erinnert an die Schwierigkeiten, einen Platz in den Gaststätten an der Küste zu bekommen, lobt diesen oder jenen Strand, klagt über schlechte oder überfüllte Zufahrtsstraßen. Die Zeit vergeht trotzdem nicht. Es scheint, als sei sie stehen geblieben. Ich bin schon lange nicht mehr der Letzte in der Reihe. Das Ende der Schlange verschwindet irgendwo hinter mir in der Dunkelheit. Unter uns gibt es Spaßvögel, die das ganze mit ironischen Kommentaren versehen und mit witzigen Bemerkungen würzen. Wir vertreiben uns die Zeit auf jede erdenkliche Weise.
Gegen 9.00 Uhr kommt Leben in die frierende müde Schar. Die Angestellten des Reisebüros trudeln ein. Der Anblick dieser Vielzahl von Wartenden nimmt den Kolleginnen vom Reisebüro die letzte Lust, ihre Arbeit aufzunehmen.
Sonnenuntergang an der Ostsee Foto:Wikipedia gemeinfrei
Die Leiterin der Einrichtung lässt uns auch sogleich wissen, dass die meisten sofort nach Hause gehen können, denn sie hat nur 40 Urlaubsplätze an der See zu vergeben. Ich bin Nummer 42! Gehen, oder nicht gehen, das ist für mich die Frage. Ich gehe nicht. Vielleicht geschieht ein kleines Wunder.
Der ersehnte Augenblick ist gekommen, es beginnt die Vergabe der heiß ersehnten Ostseeplätze. Namen bekannter Urlaubsorte werden genannt: Heiligendamm, Kühlungsborn, Breege, Prerow (Ahrenshop oder die Insel Hiddensee sind nicht dabei!!). Termine und Kosten werden besprochen Ich komme den Verwalterinnen der begehrten Urlaubsplätze näher und näher. Mein Herz klopft vor Aufregung. Ob ich doch noch Glück habe? Ich habe!
Es gibt noch einen Urlaubsplatz in Börgerende. Ich sage sofort zu, ohne noch groß zu überlegen. Erst nach Abschluss des Vertrags erkundige ich mich, wo denn dieser Ort liegt. Ich erfahre, dass er sich in der Nähe von Heiligendamm und Bad Doberan befindet, direkt an der Küste. Was will man mehr.
Völlig geschafft, aber überglücklich berichte ich meiner Frau von meinem tollen Erfolg.
Die Zeit bis zum Sommer vergeht wie im Fluge. Schon sind die Koffer gepackt. Wir sitzen im Zug nach Rostock. Der ist proppenvoll. Die halbe DDR ist auf dem Weg zur Ostsee.
Die Fahrt erscheint endlos. Das lange Sitzen ist lästig. In unserem Waggon muss es hunderte von Kofferradios geben, die einander an Lautstärke überbieten. An Schlaf ist nicht zu denken. Müde, zerschlagen, zerzaust und zerknittert kommen wir in Rostock an. Dienstbare Reisebürogeister verfrachten uns in den Urlauberbus nach Börgerende. Der Ort entpuppt sich als ein kleines verschlafenes Dörfchen an der Küste mit Dorfkonsum und Gaststätte. Die Ansprechpartnerin des Reisebüros informiert über Essenszeiten, Kurtaxe, Anmeldungsformalitäten und bittet um pünktliches Erscheinen beim Essen, da wegen der vielen Urlaubsgäste in Schichten gegessen wird.
Stall als Urlaubsquartier an der Ostsee. Foto: E. Vollbach.
Wir erledigen, was erledigt werden muss, und schleppen dann die Koffer zu unserem Quartier, das sich in einem Bauernhof befindet. Das Haus sieht gut und solide aus. Aber nein, im Haus wohnen wir nicht. Wir wohnen im Stall! Uns verschlägt es die Sprache. Natürlich schlafen wir nicht bei den Schweinen, aber in der ehemaligen Knechtskammer nebenan. Das müssen wir erst einmal verkraften. Der Raum ist, sagen wir mal, äußerst spartanisch eingerichtet. Zum lange Verweilen lädt er nicht ein. Aber damit nicht genug, die Bäuerin bedeutet uns, dass sich die Gäste bisher immer gleich an der Pumpe im Hof gewaschen haben. Offensichtlich wird das auch von uns erwartet. Die Toilette entpuppte sich als ein Häuschen im Garten mit maßgerechtem Kasten. Dass wir zum Frühstück gar noch warmen Kaffee wünschen, wird von den Wirtsleuten offenbar als Zumutung empfunden. Andere Gäste gaben sich mit kalter Milch zufrieden. - In der Nacht kommt Sturm auf. Wir merken es daran, dass der Wind ungestüm durch die nicht zu übersehenden Spalten der Tür pfeift und es ungemütlich kühl wird. Eine Heizmöglichkeit gibt es natürlich nicht.
Wir kuscheln uns in einem Bett zusammen und versuchen, uns gegenseitig zu wärmen.
Einen Ostseeurlaub mit dem Reisebüro hatten wir uns irgendwie anders vorgestellt. Das sagten wir auch der Mitarbeiterin des Reisebüros vor Ort. An ein Ausweichquartier war natürlich nicht zu denken, wir sollten doch froh sein, überhaupt einen „Ostseeplatz" zu haben. Es sei für das Reisebüro sehr schwer, Urlaubsunterkünfte an der See zu finden. -
Die letzte Reise mit dem Reisebüro führte uns drei Jahre später nach Bulgarien. Die Kontaktaufnahme mit dem Reisebüro zur Buchung einer Auslandsreise erfolgte in etwa wie gehabt, das hieß also wieder an einem bestimmten Tag in aller Herrgottsfrühe aufstehen, sich einer Wartegemeinschaft vor der einschlägigen Geschäftsstelle anschließen und hoffen und bangen, dass man eine Reise erwischt, die einigermaßen den eigenen Erwartungen entspricht. Ungarn war bereits aus, als ich schließlich an der Reihe war, auch die Reisen zum Goldstrand oder zum Sonnenstrand in Bulgarien sind schon vergeben. Was noch gebucht werden könne, ist ein Urlaub im Rhodopengebirge in Bulgarien. Ein Blick auf die Karte belehrt mich, die Rhodopen bilden die Grenze zu Griechenland. Das könnte interessant werden. Ich nehme diese Reise.
Mit den ausgedehnten Gebirgswanderungen, die wir vorhatten, wird es aber nichts, die Wanderwege sind schlecht markiert und Wanderkarten gibt es nicht, denn hier ist schon Grenzgebiet. Es hätte ja sein können, die Gäste aus der DDR werden so von der Wanderlust übermannt, dass sie zur griechischen Grenze wandern und über diese hinweg.
Und dann ereignet sich das Unglaubliche, das uns so geschockt hat, dass uns schlagartig alle Freude an der Reise vergeht.
Im Verlauf der zweiten Urlaubswoche ergeben sich Probleme. Eine Leistung, die in dieser Reise enthalten war, konnte wohl nicht angeboten werden. Ich habe vergessen, worum es ging. Nicht vergessen habe ich aber, wie der deutsche Reiseleiter beim Abendessen aufstand und die „Genossen" (sprich: Mitglieder der SED) in der Reisegruppe aufforderte, nach Tisch zu einer Parteiversammlung(!) zusammenzukommen, um zu entscheiden, wie das entstandene Problem gelöst werden soll.
Wir trauten unseren Ohren nicht und sind für einen Moment so perplex, dass wir mit offenem Mund am Tisch sitzen und zu keinem geharnischten Protest fähig sind.
Es ist unfassbar: über unseren Urlaub wird von einer Handvoll SED - Genossen entschieden, ohne dass wir anderen eine Chance der Mitsprache haben.
Nach diesem Exempel von „Diktatur des Proletariats" selbst auf einer Urlaubsreise mit dem Reisebüro stand für uns fest: Nie wieder Reisebüro der DDR!
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