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Die verlassene Schule bei Tschernobyl - Lost Place

Nic

Am 26. April 1986 kam es im Atomkraftwerk Tschernobyl zu einer der schlimmsten Nuklearkatastrophen. Die freigesetzte Radioaktivität entsprach dem zehnfachen der Atom-Bombe von Hiroshima 1945. Erst drei Tage später wurde die 3 km entfernte Stadt Prypjat evakuiert und alle Bürger mussten ab 14 Uhr "vorübergehend" ihren Wohnort verlassen. Seither ist die Mittelschule der Stadt verwaist.

30 Jahre Leerstand hinterlassen Ihre Spuren. Doch genau die machen den Ort sehenswert. Der Großteil der Mittelschule ist in einem unberührten Verfallszustand. Die Wände verlieren ihre Farbe, die alten Schulbücher erinnern an den einstigen Schulalltag. Das Heft zeigt Klassenräumen, Flure, die Turnhalle und die große Schulaula.

Das Heft bietet in der Mitte ein doppelseitiges Poster.

ISBN: 978-3-86397-121-2

Preis: 3,00 €

Putin  schießt sich selbst in die Luft

Putin schießt sich selbst in die Luft

Dr. Konrad Lindner

Erinnerung an Серафи́м Тимофе́евич Мелю́хин

1. An der Lomonossow-Universität

Lang, lang ist's her, als mir Grundfragen der Gesellschaftstransformation ins Gehirn zu kriechen begannen. Da war ich zur Weiterbildung in die Sowjetunion delegiert. Ein kleiner Philosoph auf den Spuren von Karl Marx und Wladimir Iljitsch Lenin, der meinte, die Welt mit der Rivalität zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu verstehen. Aber dann traf mich in Moskau ein Gedankenblitz, durch den mein Weltbild von der historischen Unbesiegbarkeit des realen Sozialismus einen heftigen Riss bekam. Durch Serafim Timofejevič Mel‘uchin (1927 – 2003). Durch unseren Professor im Dialektischen Materialismus. In seiner Vorlesung zu philosophischen Problemen der Naturwissenschaften und zur Dialektik der Natur von Friedrich Engels erläuterte Mel'uchin im Frühjahr 1985 die Situation im Lande Lenins. Im vollen Hörsaal stand unser Professor am Pult und redete plötzlich nicht über Naturphilosophie, sondern über aktuelle Sozialphilosophie. Mel'uchin sagte sinngemäß: Die Sowjetunion habe es im Kalten Krieg geschafft, bei der Waffenentwicklung und im Wettrüsten mit dem Westen mitzuhalten, aber das Riesenreich habe es nicht geschafft, seine Wirtschaftskraft in dem Maße zu entwickeln, um den breiten Teilen der Bevölkerung einen guten Lebensstandard eröffnen zu können. - Aus heutiger Sicht, so möchte ich sagen, wurde mit dieser knappen Einschätzung im Jahr des Aufstiegs der Reformer um Michail Gorbatschow der Sowjetunion nicht schon ihre Existenzberechtigung abgesprochen. Aber doch hat Mel'uchin ihre politische Zukunft mit einem großen Fragezeichen versehen. Mich begleitete seine Einschätzung fortan in Leipzig.

2. Vom heimlichen Klassenkämpfer zum Bürger mit Stimme

Nikolaikirche Leipzig. (2)
Nikolaikirche Leipzig. (2)

Zunächst als der Protest der Parteibasis gegen die SED-Führung aufflammte und als ebenfalls in der DDR aus der linken Intelligenz der Ruf nach Reformen und nach "Glasnost" erklang. Die knappe Analyse Mel‘uchin's verwies darauf, dass die Freiheitsdefizite in den Gesellschaften des Ostblocks den Menschen nicht nur die Luft zum Atmen nehmen, sondern auch den Lebensstandard und die Wohlfahrt sabotieren. Der Hinweis auf die Inkongruenz von Waffen- und Sozialentwicklung im kommunistischen System lieferte dann aber wider Erwarten auch einen stichhaltigen Ansatz, um das Geschehen von 1990/91 zu verstehen: Den gewaltsamen, aber doch friedlichen Zusammenbruch der politischen und wirtschaftlichen Ordnung der DDR. Es wurde selbst mir als einem Sozialisten in der Tradition von Lenin heftig wie aufrichtig klar, dass der Crash der staatssozialistischen Herrschaft kein Werk ausländischer Feinde und westlicher Geheimdienste ist, sondern ich erlebte ein selbstgemachtes Scheitern: Ein Zusammenbruch, der aus der Infunktionalität der Ordnung resultierte, in der die Rechtsstaatlichkeit kleingeschrieben, gefesselt und bekämpft wurde. Aber auch ein Geschichtsbruch, der nach politischer und gesellschaftlicher und persönlicher Transformationsarbeit verlangt hat.

3. Demokratie steckt an; Bereicherung schreckt ab

Figuratio. Bildhauer: Matthias Jackisch. (3)
Figuratio. Bildhauer: Matthias Jackisch. (3)

Gelebte Demokratie ist ungeheuer attraktiv und geradezu ansteckend. Umso enttäuschender ist es, wenn ein gebildeter Mann wie Wladimir Putin die ihm mögliche Entwicklung zum Demokraten nicht geschafft und im Laufe seiner langen Amtszeit als Präsident mehr und mehr und schließlich vollständig verraten hat. Vielleicht hat er, der von 1985 bis 1990 in Dresden fern der Heimat im Tal der Ahnungslosen in der DDR lebte und als Geheimdienstoffizier tätig war, nie analysiert und bis heute nicht verstanden, was Serafim Timofejevič Mel‘uchin bereits 1985 in Moskau lehrte. Wir Philosophen, die wir aus allen Ostblockstaaten von Polen bis Ungarn und auch aus Kuba zur Weiterbildung nach Moskau auf die Leninberge gekommen waren, konnten aus seinem Mund lernen: Ein Gesellschaftssystem, das nur moderne Waffen, aber keine moderne Wohlfahrt und keine moderne bürgerliche Gesellschaft mit dem Zusammenspiel von Rechtsstaat und Sozialstaat zu entwickeln vermag, ist in der technologischen wie sozialen Wende hinein in das 21. Jahrhundert nicht lebens- und zukunftsfähig. Die Dynamik von Bürgergellschaften entdeckten nicht erst Ludwig Erhardt und Willy Brandt, sondern bereits der Berliner Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel brachte sie in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820/21) auf den Begriff. Freiheit galt ihm als die höchste Bestimmung des Geistes. Wird das Prinzip Freiheit aus der Gesellschaft verbannt, findet eine derartige Ordnung in der Bevölkerung auf Dauer keine Akzeptanz und Legitimation. Die Menschen entziehen autokratischen Staatskonstrukten ihre Solidarität. Entweder durch Flucht oder durch Protest. Putin hat wohl nie begriffen, dass der schleichende Niedergang und der plötzliche Zerfall der Sowjetunion esssentielle und systemische Gründe hatte. Ein Niedergang, über dessen Ursprünge seitens der russischen politischen Intelligenz spätestens seit 1985 erstaunlich nüchtern gesprochen, sehr offen sowie mit guten Argumenten gestritten worden ist. Putin hält derartige Analysen von sich und seinem Denken weit weg, obwohl er fließend Englisch und Deutsch spricht und als Hobbyhistoriker unterwegs ist. Aber Letzteres ist gerade das Problem. Darauf macht der Historiker Matthäus Wehowski vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden aufmerksam: "Putin versteht sich als 'Chefhistoriker' seines Landes und hat die aktuelle Invasion bereits im Sommer 2021 mit einem historischen Essay begründet, in dem er der Ukraine jegliche eigenständige Geschichte und Kultur abgesprochen hat." (Wollte Deutschland die Entwicklungen in Russland nicht wahrhaben? Matthäus Wehowski im Gespräch mit Karsten Eckold am 09. März 2022. In: Dresdner Universitätsjournal 5/2022.) Der Bildhauer Matthias Jackisch aus Tharandt wird durch den Film Ein Schloss für Putin von Alexej Nawalny noch etwas deutlicher. Der Künstler schrieb mir am 19. März 2022 über den jetzigen russischen Präsidenten: "Solch' primitive Schweine dürfen nicht die Weltpolitik bestimmen." Immerhin beweist Nawalny Dokument für Dokument, dass das oberste Gebot im Handeln der Gruppe Putin aus einem kriminell-mafiösen Willen zu grenzenloser Bereicherung erwächst. Der russische Filmautor zeigt auch auf, dass der Ursprungsort des prekären Sozial- und Kumpanennetzes des Wladimir Putin im einstigen KGB-Stasi-Milieu von Dresden ausfindig zu machen ist. Übrigens: Auch aus seiner Erfahrung von 1989/90 in Dresden bastelte sich Putin - der einstige Offizier ohne Uniform - bei der geistigen Vorbereitung des Krieges gegen die Ukraine einen Trugschluss, von dem er Anfang 2022 wie besessen an seinem langen weißen Tisch zu träumen schien, als er Emmanuel Macron und Olaf Scholz systematisch belog.

4. Fiktion einer Wiedervereinigung

Karikatur von Michael Eppler. (4)
Karikatur von Michael Eppler. (4)

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev, der in Sofia und Wien arbeitet, kennt Putin aus einigen Gesprächen. Er erzählte im Spiegelinterview am 11. März 2022 über den Agenten von 1989 in Dresden und über den Präsidenten von 2022 in Moskau zwei Geschichten:

 

"Es ist schwierig, sein Land zu verstehen, wenn es sich dramatisch verändert, und man selbst lebt im Ausland. Von außen erscheinen die Vorgänge als ein Mysterium, als eine Art Verschwörung, nicht zu verstehen. Was er aber erlebte und verstand, war die nationale Euphorie in Deutschland, als die Mauer fiel, weil er war ja da. In dem Essay schreibt er, dass eine Mauer errichtet worden sei zwischen der Ukraine und Russland und diese Mauer müsse fallen. Insofern ist das, was jetzt in der Ukraine passiert, Putins Version einer friedlichen Wiedervereinigung."
(»Putin lebt in historischen Analogien und Metaphern« Ein SPIEGEL-Gespräch von Lothar Gorris mit Ivan Krastev. DER SPIEGEL 11/2022.)

 

Putin glaubte am 24. Februar 2022 nach Jahren, Monaten und Wochen des Lügens wohl mit Inbrunst, dass die Bevölkerung der Ukraine die von ihm befehligten Truppen als Befreier empfangen werde. Der selbstgewisse Diktator bildete sich ein, dass die russische Bevölkerung des Nachbarlandes ähnlich wie die ostdeutsche Bevölkerung von 1989/90 voller Freude den Willen zum Anschluss an den großen Nachbarn entwickeln wird. Der Präsident in Moskau setzte darauf, dass die russische Bevölkerung der Ukraine nur darauf wartet, in das autokratische Gesellschafts- und Lebenssystem von Zar Wladimir zurückzukehren.

5. Stimmen gegen Putins Krieg

Michael Eppler bei der Arbeit. (5)
Michael Eppler bei der Arbeit. (5)

In der Ukraine wurden Putin und sein Krieg nun aber nicht bejubelt wie Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden. Völlig anders das Echo, das Putin mit seinem Überfall auf das Nachbarland hervorrief. Dem russischen Diktator schlug und schlägt auf dem Boden der Ukraine ein zäher Widerstand und ein Befreiungskampf ins Gesicht, in dem sehr junge Generäle – wie ukrainische Flüchtlinge berichten - eine motivierende Rolle spielen. Wie Professor Mel‘uchin 1985 in Moskau die Gesellschaftskrise und den Zustand der Diktatur in der Sowjetunion in Worte fasste, was mir in den folgenden Jahren sehr half, so bin ich auch heute dankbar, dass sich wieder Philosophen zu Wort melden und das gerade auch zur Konfliktlage zwischen Autokratie und Demokratie, zwischen Russland und Ukraine und somit zum Ukraine-Dilemma Putins. Ein Beispiel. Über Putins Fiktion einer Wiedervereinigung schreibt der Leipziger Logiker Pirmin Stekeler in seinem Essay Zum Verschwinden des Vertrauens in Theorien der Rationalität und in der Praxis des Krieges nüchtern und deutlich, den er am 17. März 2022 bei der Philosophischen Rundschau eingereicht hat: "Allerdings wollen sich die Russen der Ukraine allem Anschein nach anders als 1938 die Österreicher und Sudetendeutschen keineswegs in eine Diktatur ‚befreien‘ lassen – und lassen damit auch den Metropoliten und die anderen Landsleute im Nachbarland, samt wohlmeinenden Ausländern, die ethnische Spannungen im Süden und Osten des Landes annehmen, eher alt aussehen." Wer mit der russischen Propaganda bestreitet, dass es in der Ukraine einen handfesten "friedlichen und demokratischen Machtwechsel in Regierung und Parlament gab", so die Einschätzung des Historikers Matthäus Wehowski, der sieht heute alt aus. Der versteht nicht die Beharrlichkeit und die Klugheit des Widerstands gegen Putins Aggression, der noch zu breite Teile der russischen Bevölkerung zustimmen. Umso wichtiger: Nicht nur Wissenschaftler, auch Künstler setzen ein persönliches Zeichen der Solidarität. Der Bildhauer und Zeichner Matthias Jackisch feiert mit dem Blatt Figuratio vom 16. März 2022 die Abweichung von der Geraden, den Sprung zur Seite, die eckigen Wege, den Aufbruch ins Ungewohnte und somit eine Bewegung, die für Freiheit und auch für Freiheit in der Ukraine steht.

Der Leipziger Maler und Zeichner Michael Eppler entzaubert in seiner Karikatur Katjuscha Boomer vom 6. März 2022 den Regenten Putin mit sicherem Strich als einen Kriegsverbrecher. Seine Zeichnung stellte Eppler am 8. März 2022 in einem Malkurs des Kunstvereins art Kapella auf dem Alten Friedhof zu Schkeuditz öffentlich vor. Wir sahen das Bild an und schwiegen zunächst. Aber der Ironie der Zeichnung konnten wir uns nach längerem Hinschauen nicht entziehen: Dieser Putin ist kein guter und liebevoller Opa, sondern ein ruhm-, macht- und geldgeiler alter Mann, der mit jedem Schuss und jeder Bombe seiner Truppen in der Ukraine für Unglück und Zerstörung sorgt und der sich dabei aber selbst bis zur Unkenntlichkeit in die Luft schießt.

 

20. März 2022

Bildnachweis

Kopfbild und Abb. 4 und 5 Michael Eppler

Abb. 1 und 2 aus Wikimedia - gemeinfrei

Abb. 3  Matthias Jackisch

Der Bertuch Verlag dankt den Künstlern, die ihre Arbeiten zur Verfügung gestellt haben.

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