Auf dem Löbauer Berge blüht in der Johannisnacht* eine Blume, herrlich und schön, und wer sie pflückt, wird zum glücklichen Menschen. Der Stengel ist von grünem Smaragd, an dem Blätter von Rubin wachsen, die weithin durch den dunkeln Tannenwald leuchten. Alles aber übertrifft an Pracht ihr Kelch, der aus einem großen Diamant besteht, dessen Glanz den Mond und die Sterne verdunkelt und aus dem liebliche Gesänge emporsteigen, die zauberisch die stille Nacht durchklingen.
Von dieser Wunderblume erzählt man sich folgende Sage. Die Johannisnacht war auch in Löbau mit mancherlei Schwank und Scherz gefeiert worden, die Lichter erloschen allmälig in den Häusern, da trat ein Mädchen aus einer niedrigen Hütte, die einsam am Fuße des Löbauer Berges stand. Mit verweinten Augen blickte sie hinauf zu dem Sternenzelt und seufzte: „Wann wird mein armes Herz Ruhe finden!“ Vater und Mutter und Geliebter waren ihr kurz nach einander gestorben, und sie hatte heute Abend nach alter Sitte ihre Gräber geschmückt und an ihnen gebetet. Da ging sie durch das thauige Gras den Berg hinauf, und vor ihr schwebte ein Irrlicht, dem sie unbewusst folgte. Der Wald wurde immer dichter, die Tannen rauschten traulich in der Einsamkeit. Plötzlich sieht das Mädchen durch die Bäume hellen Glanz schimmern, sie eilt auf die Stelle zu und steht vor der Wunderblume.
So hatte sie ihr einst ihr Vater geschildert, als sie allabendlich das Köpfchen auf die Hände gestützt, seinen Erzählungen lauschte. Es war ihr, als tönte es aus dem Kelche: „Pflück mich ab, pflück mich ab!“ Und als sie die Blume abgepflückt hatte, erlosch der Glanz derselben und der Wald war wieder dunkel wie zuvor.
Am andern Morgen fanden Kinder, welche Beeren suchten, das Mädchen todt mit gefalteten Händen liegen. Die Blume hatte es zum höchsten Glücke erhoben.
* Die Johannisnacht ist die Nacht auf den Johannistag, vom 23. auf den 24. Juni. Die Geburt Johannes' des Täufers, Lorenzo Veneziano (um 1356).
Zur Sommersonnenwende hat die Sonne die größte Mittagshöhe über dem Horizont. Auf der Nordhalbkugel der Erde erreicht die Sonne in unseren Breiten den Sommerpunkt am 21. oder 22. Juni. Wenn die Sonne ihren höchsten Stand am Himmel erreicht und die Tage ihre maximale Länge aufweisen, ist seit Jahrtausenden mit einer Reihe von Mythen, Legenden und Ritualen verbunden. Schon die Kelten feierten am 21.6. das Jahreskreisfest Litha. Auch in Deutschland entzünden heute Menschen Lagerfeuer und lassen Fackeln brennen, um böse Geister fernzuhalten und den Schutz der Feen zu erbitten. Es wurde angenommen, dass Feen in dieser Nacht besonders aktiv waren und Menschen Glück und Segen bringen konnten. Die christliche Religion legte die Geburt Johannes des Täufers in unmittelbare Nähe, um von diesen heidnischen Ritualen abzulenken und auf christliche Traditionen zu verweisen.
Ursula Brekle Leipzig, im Juni 2023
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Ursula Brekle