Leidenschaft ist wie das Salz in der Suppe. Soll etwas im menschlichen Handeln gelingen und gut und stimmig werden, dann ist dazu Leidenschaft erforderlich. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Auf dem Flyer der Ausstellung Leidenschaft sind acht Bilder von acht Künstlerinnen und Künstlern versammelt. Aus den Reihen der kreativen Pinsel, einer Schkeuditzer Malgruppe, die seit dem Jahr 2008 besteht.
II
Was ist ein Bild? Wir meinen, diese Frage leicht beantworten zu können, aber das dürfte ein Irrtum sein. Auch ich werde nur eine provisorische Antwort finden können. Ich werde bezogen auf acht Bilder der Ausstellung den Dialog mit einigen Philosophen suchen, um eine mögliche Antwort auf die Bilderfrage anbieten zu können. Auf dem Flyer sind sieben gegenständliche Bilder und ein abstraktes Bild vereint: See, Meer, Welle, Kamelie, Mohn, Wiedehopf und Putin-Orgel sowie ein geneigter Kopf. Sieben gegenständliche Bilder und ein Bild, das einen Engel zeigen könnte, der seinen Kopf nicht auf den Schultern, sondern an der Seite trägt. Es handelt sich durchweg um künstlerische Schöpfungen, bei denen die Farbe als zweidimensionaler Fleck in Erscheinung tritt. Lässt sich Malerei so definieren, dass sowohl die gegenständliche Malerei der Alten Meister als auch die moderne nichtgegenständliche Malerei erfasst wird? Lassen sich die Bilder des Flyers auf eine Formel bringen? Dieses Problem hat der Philosoph Hegel lange vor Kandinsky und Klee, vor Picasso und Richter gelöst. Nach dem Besuch der Kunstsammlungen in Dresden bestimmte er in seiner Berliner Vorlesung über die Philosophie der Kunst im Herbst 1820 die Malerei als eine Magie des Scheinens. Ob das abstrakte Bild mit dem gebeugten Engel oder der gegenständliche Mohn – in beiden Fällen erleben wir die Magie des Scheinens. Das Aufscheinen von Sonnenlicht am Morgen ist im Menschenleben ein Urerlebnis. Das Leuchten von Werken der Malerei ist in unserer Kultur ein Fest des Scheinens, ein Erlebnis der Farben und Formen, ein Ereignis, das aus Photonenflüssen erwächst und das immer auch Impulse des Dialogs freisetzt. Über jedes Bild können wir so, aber immer auch anders sprechen.
In der Malerei gilt ein Primat des Könnens vor dem Wissen. Gerhard Richter schrieb 1962 in diesem Sinne in einem Brief: "Das Denken ist beim Malen das Malen ...". Leidenschaft ist in der bildenden Kunst wie generell im Leben ein praktisches Vermögen. Ein Vermögen des Könnens. Malen ist also nicht nur ein Reden, sondern Malen ist eine gegenständliche Tätigkeit oder – um mit Marx und seinen Thesen über Feuerbach zu reden – eine "sinnlich menschliche Thätigkeit", bei der ein reales Bild auf Leinwand oder auf Karton oder auf einem anderen Untergrund entsteht. Bilder leben von dem Wechselspiel zwischen Formen und Farben. So sehr Bilder aus dem Pinsel oder dem Spachtel und aus der Handbewegung entstehen, so wenig ist beim Malen der Kopf abgeschaltet, auch wenn man beim Fließenlassen der Farben nie im Voraus weiß, was im Fießgeschehen genau entsteht. Eine Seenlandschaft durch Pouring entstehen zu lassen, das ist eine raffinierte und eine beachtliche Leistung. Bei derartigen Bildschöpfungen muss die Magie des Scheinens, die nach Hegel auf der Ordnung oder auf der Harmonie der Farben beruht, nun aber genauer bestimmt und beschrieben werden.
Zwei große Denker der Farben im 20. Jahrhundert waren der Bauhauskünstler Johannes Itten und der aus Wien stammende Logiker Ludwig Wittgenstein, der an der Universität Cambridge gewirkt hat. Der Farbkreis von Itten beruht zuallererst auf dem Farbdreieck Blau, Gelb und Rot. Lässt man Rot weg, hat man das aktuellste Freiheitssymbol des 21. Jahrhunderts: Die Flagge der Ukraine. Die Fahne des Landes in Europa, das Putin noch immer zerschießen lässt! - Rot ist die dritte Grundfarbe im Schema von Itten. In der psychologischen Lesart der Farben steht die Grundfarbe Rot in der Wahrnehmung von uns Menschen für Glühen, für Exzess, für Rausch, für Liebe und eben für Leidenschaft. Eine pflanzliche Legitimation, die Farbe Rot auf die Leinwand zu bringen, liefert die Kamelie bereits im Winter – siehe Kamelienblüte in der Glaskugel – und im Frühjahr der Klatschmohn. Die Grundfarbe Blau ist bei allen acht Bildern des Flyers zu entdecken. Sie steht für Himmel, für Wasser, für Lichreflexe auf der Glaskugel und sie zeigt sich in den Rechtecken des abstrakten Bildes. Sogar einige Gesichter von Putin nehmen in der Karikatur den Blauton an. Aus den drei Grundfarben Rot, Blau und Gelb baute Itten durch Mischen den zwölfteiligen Farbkreis mit den Mischfarben Grün (aus Blau und Gelb), Orange (aus Gelb und Rot) sowie Violett (aus Rot und Blau) auf. Das Farbmodell von Itten versammelt die bunten Farben und steigert die Palette durch Mischen von drei auf zwölf Farben. Ein Vorgang, der ins Unendliche gesteigert werden kann. Ittens Modell hat aber den Nachteil, dass die unbunten Farben Schwarz und Weiß unter den Tisch fallen.
Soll die Magie des Scheinens am Beispiel der Bilder erörtert werden, die auf dem Flyer versammelt sind, reicht das Farbmodell von Itten nicht aus. Hinzuzunehmen ist ein Farbenoktaeder, der auf den Physiker und Psychologen Alois Höfler zurückgeht. Ich ziehe damit das Modell heran, auf das sich Wittgenstein seit 1932 bei seinen farblogischen Notizen gestützt hat. Es wäre eine wichtige kunstphilosophische Aufgabe, im Detail zu zeigen, dass der Rückgriff des Verfassers des Tractatus logico-philosophicus (1921) auf die unbunten Farben Schwarz und Weiß gerade auch aus der Herausbildung der modernen Malerei erwachsen ist. So machte Kurt Badt in seinem Buch über Die Farbenlehre van Goghs (1981) auf den Rang der Farben Weiß und Schwarz im künstlerischen Schaffen aufmerksam: "Die unbunten Farben ermöglichen also im Bunt der Bilder neue, die Naturwirklichkeit überschreitende, künstlerische Statuierungen." Die Farbe Schwarz kann von Blau-Schwarz über Braun-Schwarz bis Grün-Schwarz in vielen Schattierungen variieren. Mit Schwarz und mit Weiß bringen Maler in ihren Gestaltungen oft eine Überschreitung von Grenzen oder eine Steigerung von Extremen ins Spiel, wovon noch zu sprechen sein wird. Gustav Klimt setzte die unbunten Farben gekonnt so ein, dass sich das Alltägliche in das Festliche steigerte. Der Wiener Künstler malte beispielsweise Wittgensteins Schwester Margaret 1905 in einem langen weißen Kleid. Der Kontrast des Kleides zu ihrem schwarzen Haar und zu ihren dunklen Augen erhöhte die Ausstrahlung der jungen Frau. Als Modell seiner Notizen zur Logik der Farben wählte Wittgenstein seit 1932 den Körper des Oktaeders. Ein Quadrat mit den bunten Farben Gelb, Rot, Blau und Grün als den Grundfarben an den Ecken. Dann aber oben im Oktaeder Weiß und unten Schwarz. Bei diesem Modell brechen die unbunten Farben Schwarz und Weiß aus der Ebene der bunten Farben aus und besetzen oben die Position der hellsten Farbe sowie unten den Ort der dunkelsten Farbe. Werden die acht Bilder des Flyers betrachtet, spielt die Farbe Weiß außer in dem abstrakten Bild überall eine wichtige Rolle, ob nun als Gischt, als Wolke, als Feder oder als Lichtreflex und als Gesichtston. Vor allem der Wiedehopf kommt gerade auch durch den untereren Gefiederanteil mit dem Schwarz-Weiß-Kontrast höchst feierlich daher. Man kann nicht anders und man schaut den kessen Vogel des Jahres 2022 wie gebannt an. Der Kontrast von Weiß und Schwarz ist daran beteiligt. Ein Fast-Schwarz trifft aber auch bei dem Meerbild auf die weißen Wellenkämme, wodurch die Dynamik der Wasserfläche gesteigert wird. Nicht zuletzt das Kamelienrot und das Mohnrot erfahren durch den Zusammenprall mit fast schwarzen Farbflächen eine Steigerung des Scheinens.
Das Mohnbild auf dem Flyer hat auch durch die Farbe Grün einen Bezug zum Farbenoktaeder. Im Jahr 2018 verfasste ich alle meine Mohnbilder noch ohne Grün. Die Vorentscheidung war: Arbeite in einer Nicht-Grün-Ästhetik! Wie bei der Kamelienblüte auf dem Flyer funktionierte das. Dort, wo die Farbe Grün fehlt, denken wir sie uns beim Schauen oft dazu. Bei dem Mohnbild des Jahres 2020 auf dem Flyer ist die Farbe Grün jedoch präsent. Das hatte den folgenden Grund. Ich wollte der Frage Wittgensteins aus dem Jahr 1950 nachgehen, die da lautet: "Gibt es eine 'Naturgeschichte der Farben' und wieweit ist sie analog einer Naturgeschichte der Pflanzen?" Bei der Suche nach einer Antwort benötigt man die Farbe Grün. Die Erde ging aus ihrem rotglühenden Urzustand in einen Planeten über mit Wasserblau und Pflanzengrün. Unser Heimatplanet ist nicht nur ein gelber, sondern vor allem ein blauer, aber auch ein grüner Planet. Das Mohnbild feiert nicht nur die Farbe Rot, sondern es entfaltet auch die Magie des Grünaufscheinens. Ein Thema, das in der Bibel sehr schön besprochen wird. Bevor Gott in dem Buch der Bücher als Erlöser in Erscheinung tritt, lesen wir im Alten Testament gleich zu Beginn über ihn, dass er sich als Schöpfer betätigt. Die Magie der Farbe Grün wird am dritten Tag der Urgeschichte in der Bibel mit den Worten getroffen: "Da sprach Gott: 'Die Erde lasse aufgrünen Gras und Kraut ...`." Auch dem auf Erden weitverbreiteten Wiedehopf sind auf dem Flyer grüne Blätter beigegeben, die das irdische Aufgrünen symbolisieren.
Die Welle auf dem Flyer ist gesondert zu besprechen. Sie ist ein Bild, in dem das Leidenschaftliche im Wirklichen auf großartige Weise visualisiert wird, ohne dass wir einen Menschen erblicken. Doch wir dürfen nie vergessen, dass wir uns als Betrachtende mit dazu denken müssen, wenn wir ein Tafelbild anschauen. Eine Welle im Meer können wir frontal vom Strand her erblicken. Wir können sie aber auch vom Boot aus von der Seite aus beobachten. Die im Blau-Weiß-Konrast gestaltete Welle vollzieht gerade einen Überschlag. Das Wasser strömt herbei. Bricht aus der Geraden aus. Wird in die Höhe gehoben und begibt sich in eine Kurve zurück. Es vollzieht sich eine Kehre des Wassers. In diesem Bild wird ein maximaler Ausbruch aus dem Gewohnten dargestellt. Ein Vorgang der Extreme, der durchaus dabei helfen kann, im Menschenleben die Dynamik des Leidenschaftlichen zu verstehen. Der Philosoph, der den Affekt des Leidenschaftlichen genauer analysierte, studierte seit Oktober 1865 in Leipzig: Friedrich Nietzsche. Der Pfarrerssohn aus Röcken führte ein Begriffspaar ein, das einen wichtigen Kontrast aufzeigt. Einmal das Apollinische, bei dem Künstler das rechte Maß treffen. Die richtige Form, aber auch die stimmige Farbharmonie. Dann aber weiterhin das Dionysische, bei dem aus dem Gewohnten ausgebrochen wird und eine Grenzüberschreitung gewagt wird. Dionysos ist der Gott des Weins. Das Dionysische steht für Rausch, für Exzess, für Leidenschaft. Wir sind alle wachsende Vulkane, schrieb Nietzsche, und nicht einmal der liebe Gott würde wissen, wann es zum Ausbruch kommt. Ein jeder Mensch hat seine Hinterbühne, die sie oder er nicht jedem oder jeder zeigt, die aber das Tun dieses Menschen stärker antreibt, als das zumeist vermutet wird. Diese emotionale Tiefendimension tragen Malende in ihre Bilder, in ihre Schöpfungen hinein.
Was haben die Bilder mit Gesichtern, Köpfen. Kurven und Vogelflügeln in der Ausstellung mit Albrecht Dürer zu tun? Zu dem Künstler, der im Jahr 1502 das berühmte Aquarell mit dem Feldhasen schuf, das in der Albertina in Wien aufbewahrt wird, finden wir immer auch dann zurück, wenn wir uns vergegenwärtigen: Der Maler und Zeichner Dürer war auch ein bahnbrechender Mathematiker. Gesichter haben Eiform. Der lange Schnabel vom Wiedehopf ist gebogen. In dem abstrakten Bild mit dem Engel dominiert nicht die Gerade, sondern die Ellipse. Wichtig für die Berechnung der Bahn der Erde um die Sonne, die auch Eiform besitzt. Die Welle überschlägt sich nicht nur, sondern sie könnte stellenweise sogar in die Spiralform übergehen. Alles dies hat mit Geometrie zu tun. Dürer ist der Autor, der das erste deutschsprachige Werk über die Geometrie der Kegelschnitte veröffentlichte. Die Ellipse, die seit der Antike bekannt ist, bezeichnete er als Eierlinie. Da sind wir beim Putinkopf und beim gebogenen Vogelschnabel. Die Spirale bezeichnete Dürer als Schneckenlinie. Da sind wir bei der Welle, die sich überschlägt, die aber nicht an den Ausgangspunkt zurückkehrt, sondern leicht in die Spiralform übergeht.
Leidenschaft ist ein Leiden, das zuallererst schafft. Malen erlischt im Gemalten. Schaffen erlischt in der Schöpfung. Malen ist ein praktisches Vermögen, aus dem Bilder hervorwachsen und aufscheinen. Nicht nur Zeug entsteht, sondern Werke, wie Martin Heidegger formuliert. In Bildwerken manifestiert sich ein "Zuwachs an Sein". Vom Seinszuwachs durch Kunstwerke schreibt Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode (1960). Mir war es vergönnt, was für die Philosophie des Malens von Belang sein dürfte, am 19. 09. 1999 in Heidelberg Herrn Gadamer im 100. Lebensjahr zu interviewen. Bei Gadamer ist eines zu lernen, das mir für das Besprechen von Bildern und für den Dialog über Kunstwerke als wichtig erscheint. Gadamer betonte damals im Interwiew wie auch bei vielen anderen Anlässen, dass seiner Ansicht nach eine jede gute Philosophie diologisch verfasst sei. Der Meisterdenker der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehen, der von 1939 bis 1947 auch in Leipzig lehrte, klärte die Anatomie von Gesprächen und auch die Eigenart unserer Gespräche über Bilder auf. Gadamer bestand auf dem Grundsatz: Nicht nur der eine, nicht nur ich, sondern immer auch der Andere kann im Streitgespräch Recht haben! Zur Leidenschaft sollte also nicht zuletzt gehören, dass die abweichende Sicht des Anderen in der Diskussion angehört, ertragen und hinterfragt wird.
Ein Problem ist jedoch ungelöst. Die Frage, was ein Bild zum Bild macht, habe ich nur provisorisch beantwortet. Es wurde einfach unterstellt, dass sich ein Bild in Gestalt von Farbfleckfolgen entfaltet. Es gibt aber einen Stolperstein. Wie wird der Begriff des Bildes zu definieren sein, wenn Bilder aus dreidimensionalen Farbhaufen entwickelt werden können, wie sie der Leipziger Maler und Zeichner Michael Eppler herstellt und einsetzt? Ich vermute, dass auch eine Malerei ohne Pinsel, die sich - wie die Skulptur - im Dreidimensionalen ereignet, eine Magie des Scheinens im Sinne von Hegels Rede aus dem Jahr 1820 freisetzt. Aber ob das wirklich so ist, das bedarf sicherlich einer anderen Ausstellung und erfordert ein weiteres Nachdenken. Heute sollten und können wir uns an dieser Ausstellung erfreuen, die aus Leidenschaft erwachsen ist.
Die Ausstellung Leidenschaft wird vom 22. Mai bis 26. Juni 2022 in der Kunstkapelle auf dem Alten Friedhof in Schkeuditz gezeigt. Kuratiert wurde sie von Michael Eppler. Den Flyer gestaltete er mit Petra Kießling. Die Galerie art Kapella ist am Dienstag, Mittwoch, Samstag und Sonntag von 13.00 bis 17.00 Uhr geöffnet.
Stand: 22. Mai 2022
Bildnachweis
Die Bildrechte liegen bei den Malern. Abb. 3 bis 9
Kopf- bzw. Erkennungsbild: Kamelie in der Glaskugel von Alrun Budnick
Flyer: Michael Eppler und Petra Kießling
Abb. 2: Michael Eppler
Abb. 10: Annett Fischer