Zwei Sagen berichten von der Entstehung der Stadt Annaberg im Erzgebirge. Die eine Sage ist diese:
Zur Zeit Friedrich des Weisen lebte im oberen Erzgebirge nicht weit vom Schneckenberg ein alter, schlichter Bergmann, Daniel Knapp. Nach alter, frommer Sitte beugte er jeden Abend seine Knie vor dem Muttergottesbild. Als er eines Abends dies wieder getan hatte, legte er sich nieder. Da erschien ihm im Traume die heilige Mutter Anna und befahl ihm, an der Stelle einzuschlagen, die sie ihm im Traume zeigte. Verwundert über den seltsamen Traum, machte sich der Bergmann auf und wanderte nach Wittenberg, wo damals der Kurfürst weilte. Zaghaft trat Daniel Knapp vor ihn hin und erzählte ihm seinen Traum. Der Kurfürst hörte dem Bergmann erstaunt zu, und als er geredet hatte, folgte er ihm mit seinem Kanzler und begleitet von Rittern und anderen Herren. Am Fuße des Schneckenbergs, an der Stelle, die ihm im Traum geoffenbart worden war, schlug darauf der Bergmann kräftig ein, und bald strahlte dem Kurfürsten und seinen Begleitern heller Silberglanz entgegen. Der Kurfürst ließ zur Erinnerung an den wunderbaren Fund die sogenannten „Engelsgroschen“ prägen, und wenige Jahre später entwickelten sich aus den Ansiedlungen, die in der Nähe des silberreichen Schneckenbergs gegründet wurden, die Stadt Annaberg. Von dem Bergmann Knapp aber sollen seit jener Zeit alle Bergleute den Namen „Knappen“ führen.
Die andere Sage lautet:
Als noch dichte Waldung den Pöhlberg und seine Nachbarn deckte, lebte im Dorf Frohnau ein Bergmann Daniel Knappe, fromm und brav, aber sehr arm. Große Teuerung und Hungersnot herrschte im Land, und Knappe hatte sieben Kinder und eine kranke Frau in seiner Hütte. Er wußte seiner Not kein Ende und war der Verzweiflung nahe. Da erschien ihm einst im Traum der Engel Gottes und sprach zu ihm: „Gehe morgen in den Wald am Fuße des Schneckenbergs! Dort ragt eine Tanne hoch über alle Bäume des Waldes hervor. In ihren Zweigen wirst du ein Nest mit goldenen Eiern finden. Dies ist dein. Brauche es wohl!“
Als Knappe am Morgen erwachte, erinnerte er sich des Traumes und ging hinaus in den Wald, um das Nest mit den goldenen Eiern auszunehmen. Bald hatte er die Tanne in der Nähe der Wolfshöhle gefunden. Er kletterte rasch in ihren Ästen bis in den höchsten Wipfel hinaus, fand aber nichts. Traurig, dass ihn der Traum getäuscht habe, stieg er wieder herab und setzte sich auf die Wurzel des Baumes, um auszuruhen. Er sann hin und her, und dabei fiel ihm ein, dass unter den Zweigen wohl auch die Wurzeln der Tanne zu verstehen sein könnten. Diese Vermutung wurde bald zum festen Glauben, und eilig lief er und holte aus seiner Hütte das Gezäh* zum Schürfen. Eifrig begann er den Schurf, und kaum hatte er die Dammerde durchbrochen, da blickten ihn mächtige, nach allen Seiten streichende Silbergänge entgegen. Er sank auf seine Knie und dankte Gott.
Bald war die Kunde von dem neu entdeckten Bergreichtum in alle Lande verbreitet, und Tausende zogen herbei, um sich in der bisher so wilden Gegend anzusiedeln. Dies veranlasste den Herzog Georg den Bärtigen, dort eine neue Bergstadt zu gründen. Am 21.September 1496 wurde der Grundstein zu dem erste Haus gelegt. Die neue Stadt wurde Neustadt am Schneckenberg, später aber Annaberg genannt.
Zum Andenken an Daniel Knappe heißen – so meinen manche – noch heute die Bergleute im allgemeinen die „Knappen“ und ihre Gemeinschaft die „Knappschaft“.
* Gezäh heißt das Werkzeug des Bergmannes.
Bildnachweis
Kopfbild: Wappen Annaberg
Abb. 1: Auf dem Pöhlberg beim Aussichtsturm. Urheber Kora27 .
Abb. 2: Bergparade 2019, Urheber Bybbisch94, Christian Gebhardt .