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Ein Buch, das zu Herzen geht

Klinikclown Knuddel erinnert an die vielen Kindern und Jugendlichen, die er begleiten durfte, und in seinen Geschichten lässt er ihr Wesen und ihre Persönlichkeit nochmals aufleben. Geschichten über die Liebe und einen Clown im Sterbezimmer.

Aquarelle im Quadrat:  Meer, Strand und Wolken gemalt

Aquarelle im Quadrat: Meer, Strand und Wolken gemalt

Dr. Konrad Lindner

Ein Zusammentreffen von Turner und Hegel

Ferienhaus in Houstrup.
Ferienhaus in Houstrup.

Silvester 2022 hatte ich eine Woche lang die Chance, an der dänischen Nordsee zu aquarellieren. In einem Bauernhaus konnte ich darüber nachdenken, wie sich für das Bildformat 21 cm x 21 cm Motive finden lassen. Es zeigte sich, dass ich das ebenfalls mitgebrachte Buch über Die Idee der Natur vom Herbst 2022 zur Seite legen muss, um mich vollständig darauf zu konzentrieren, zunächst einige gewohnte Motive in die eher ungewohnte Quadratform zu bringen und dann aber auch nach neuen Motiven zu suchen. Mein Ziel war es, wenigstens fünf oder sechs Aquarelle zu gestalten. Damit entschied ich mich für die Einkehr in die Tradition von Joseph Mallord William Turner (1775 – 1851). Durch das Vorbild des englischen Malers wurde das Aquarell überhaupt erst als eigenständige Kunsttechnik anerkannt. Die Lebensleistung des englischen Künstlers wird auch dadurch geehrt, dass unter den heute handelsüblichen Aquarellfarben ein angenehm warmes Gelb mit der Bezeichnung Turners Gelb vertrieben wird. Das erste Bild mit dem Titel Ferienhaus in Houstrup entstand am Freitag, dem 30. Dezember 2022. Es zeigt die Frontseite eines Bauernhofs mit acht Fenstern, in dem sich unsere Ferienwohnung befand. In einige Fenster habe ich zur Beleuchtung Tröpfchen mit Turner's Gelb gekleckst. Hinter dem Haus stehen Nadelbäume. Im Himmel trifft ein rötliches Neapelgelb mit Preussischblau aufeinander. Im Schutz des Hauses malte ich das Zuhause, in dem ich darüber nachgrübelte, wie ich nunmehr das Meer und den Strand nicht im gewohnten Rechteck belassen, sondern ins Quadrat versetzen könnte. Am Samstag, dem 31. Dezember 2022, ging es wieder an die Arbeit. Für das zweite Bild mit dem Titel Nordsee wählte ich den frontalen Blick vom gelblichen Strand hinaus auf das Meer mit der dunklen Horizontlinie. Über dem Wasser türmt sich das Dunkel der Wolken in die Höhe. Im Vordergrund krachen Wellen in sich zusammen. Rauschte das Meer bei den Wanderungen am Strand heftig in den Ohren, ist in der dunklen Szenerie auch des stummen Aquarells immer noch der Lärm gegenwärtig. Kein Mensch ist zu sehen und doch ist unverkennbar die menschliche Perspektive festgehalten, die sich uns an den Rändern der Meere unseres Heimatplaneten darbietet.

Nordsee
Nordsee

Am 31. Dezember 2022 entstand ein weiteres Aquarell, bei dem ich mich nun aber direkt und unverstellt auf die Quadratform einlassen wollte. Ich zog auf dem Malkarton die Diagonalen. Ließ im Mittelpunkt die von links kommenden Dünen, das von rechts kommende Meer, den von oben kommenden Himmel und den von unten kommenden Strand zusammentreffen. Mitten in das Bild setzte ich einen dunklen Strich hinein, der nach oben ragt und in dem ich als Betrachter einen Menschen unter dem Himmel am Strand und am Meer erblicke. Bei diesem Bild mit dem Titel Mensch und Meer dachte ich wirklich sehr an Turner und seine Küstenszenen. Als ich im Vordergrund durch einen breiten Pinselzug ein Lasurorange aufleuchten ließ, das draußen beim Spaziergang gar nicht zu sehen war, geriet das Aquarell durch das goldgelbe Aufleuchten des Strandes und der Dünen zu einer Feier der Luft und des Lichts. Am Sonntag, dem 01. Januar 2023, wählte ich für das Bild Nordsee wieder den gewohnten frontalen Blick hinaus auf das Meer. Der Himmel erhielt jetzt keine dunkle und bedrohliche Note, sondern wurde wie bei abendlichem Sonnenlicht durch ein rötliches Neapelgelb aufgehellt.

Mensch am Meer.
Mensch am Meer.

Am Dienstag, dem 03. Januar 2023, ließ ich mich darauf ein, anstelle des frontalen Blicks hinaus auf die See, die Augen nunmehr den Strand und die Wasserkante entlang wandern zu lassen. Bei einer Meereswanderung wird der Blick in die Ferne des Weges durch nichts gestört. Nur ein Menschenwesen ist zu erahnen, mit dem ich gemeinsam unterwegs bin; aber weder Bäume noch Häuser verstellen die Sicht. Ich blieb bei dem schlichten Titel Nordsee. Bei der Arbeit im Ferienhaus entschied ich mich am 03. Januar 2023 noch für das Aquarell Meer im Sturm. Während bei der realen Wanderung an diesem Tag das Meer und die Wellen sogar durch Sonnenlicht beleuchtet wurden, wird das auf Himmel und Meer reduzierte Aquarell durch dunkle Farbtöne dominiert, wodurch die Horizontlinie nur zu erahnen ist. Allein im Vordergrund drängt helle Gischt heran. Durch das Dunkel im Zentrum des Bildes verschmelzen Luft und Wasser, Himmel und Meer zu einem einzigen tosenden Naturschauspiel. Es scheinen sich gigantische Kräfte zu entladen, vor denen sich ein jeder Mensch in Acht nehmen muss. Mit wetterfester Kleidung und mit der nötigen Vorsicht gelingt es durchaus, eine Weile den Naturgewalten zu trotzen und sich dem Druck des Sturms entgegenzustemmen. Doch bald wird auch wieder der Rückzug in den Schutz eines Hauses erforderlich. Selbst wenn die Aquarelle im Quadrat einige Nordseeeindrücke zum Inhalt haben und von den Menschen und ihren Konflikten abstrahieren, geht's bei derartigen Tafelbildern doch immer auch um Menschen. Bei Meerblick und Strandleuchten, bei Wolkentürmen und Sturmerleben sind immer wir Menschen als Mitspieler dabei. Hinter den dargestellten menschlichen Blickwinkeln stehen leibliche Wesen: ... atmende, hörende, sehende und laufende Vernunftwesen, die wir uns auf der Erde mit ihren Kontinentalschollen, Meeresströmungen, Vulkaneruptionen und atmosphärischen Austauschbewegungen mit mehr Weitsicht und Dankbarkeit in Freiheit zu bewähren haben. Vielleicht habe ich mich mit den quadratischen Aquarellen von der Jahreswende 2022/23 hingemalt zu dem Buch, das ich bei diesem kurzen Urlaub leider noch nicht lesen, sondern nur am letzten Tag kurz aufschlagen konnte. Das Buch über Die Idee der Natur (2022), das ich im Gepäck hatte, widmet sich der Analyse, Ästhetik und Psychologie in Hegels Naturphilosophie und ist von Philosophinnen und Philosophen verfasst worden, die sich mit den natur- und mit den kunstphilosophischen Ideen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) beschäftigen. Die Autorengruppe macht bei ihren Ausführungen zur Konstitution der Natur um den Begriff des Schönen keinen Bogen, zumal Hegel die Naturphilosophie nicht allein auf die Perspektive der Naturwissenschaften festlegt. Es zeichnet Hegel aus, dass er die Kunst und beispielsweise einen Maler des Meeres und der Wolken wie Turner ausdrücklich in sein Projekt einschließt, indem er die Grundfrage der Naturphilosophie auf den erstaunlich einfachen Fragesatz runterbricht: "Was ist Natur?". (S. 15.) Hegel hätte mir sicher keine Vorwürfe gemacht, dass ich zunächst einmal die Nordsee aquarellieren wollte, um erst danach bei seinen akademischen Urenkeln nachzulesen, was sie zu dem schwierigen und sehr vagen Begriff der Natur schreiben.

Meer im Sturm.
Meer im Sturm.

Doch am letzten Tag, am Tag des Aquarells Meer im Sturm, war es so weit. In dem Einleitungs-Essay des Buches strich ich mir den Merksatz an, mit dem Pirmin Stekeler von der Universität Leipzig eine der tiefsten Einsichten Hegels in für uns heute verständliche Worte fasst: "Alles Sein in der realen Welt ist endlicher Prozess im Entstehen und Vergehen von allem Realen." (S. 27.) Alles ist Werden. Als ich am 03. Januar 2023 die eine Sonnenlichtstunde nutzte und die dem Strand nahen Wellen im Moment ihres Zusammenbrechens und bizarren Aufschäumens fotografierte, handelte ich unter dem Eindruck von Heraklit, Hegel und Stekeler und ihrer Feier des Fließens. Immerhin hielt ich visuell Spritz- und Schaum-Effekte fest, die ohne das Zusammenfallen von Wellen-Entstehen und Wellen-Vergehen unmöglich wären. Um an den Tücken des Quadrats nicht zu scheitern, hatte ich mich im Silvesterurlaub zunächst auf das Aquarellieren konzentrieren müssen. Aber den Satz von der Zeitlichkeit des Wirklichen und den Gedanken, dass wir als Menschen im Reich des Möglichen leben, den prägte ich mir aus dem Buch über Die Idee der Natur auch ein. Die weitere Lektüre war nicht aufgehoben, sondern nur erst aufgeschoben. Denn es lohnt sich, weiter und in Ruhe nachzulesen. Auch für Kunstfreundinnen und Kunstfreunde. Immerhin waren der Maler Turner und der Logiker Hegel Zeitgenossen. Daher würde ich gern verstehen, was im Detail gemeint ist, wenn ich in dem Buch über Die Idee der Natur lese: "Gerade auch das Schöpferische der Kunst ist ... nach Hegel Instanz recht verstandener intellektueller Anschauung." (S. 37.) Meine Aquarelle sind Hobbymalerei, aber dennoch erwachsen sie aus einer nachdenklichen Anschauung und sind trotz der Arbeit mit dem Pinsel immer auch intellektuell verfasst. Mit derartigen Skizzen wende ich mich an Menschen, die Augen im Kopf haben und die "Danke!" sagen und also denken können und die sich Aquarelle mit freundlicher Kritik anschauen. Übrigens sind Hegel und Turner keine einander gleichgültigen kulturellen Phänomene. Sowohl die Bildwerke des englischen Künstlers als auch die Vorlesungen und Meisterwerke des deutschen Philosophen erwuchsen aus dem gemeinsamen Zeitalter der aufkommenden Eisenbahnen und der aufkommenden Naturwissenschaften, aber auch des aufkommenden Impressionismus. Die Natur mit Turner in ihrer Leuchtdynamik sehen zu lernen und sie mit Hegel in ihrer Zeitlichkeit und in ihrem Fluss besprechen zu lernen, das dürfte in einem gemeinsamen Denkstrom zu vereinen sein. Vor allem dann, wenn es beim künstlerischen Gestalten wie beim mündlichen und schriftlichen Philosophieren zur Koalition von Geist und Gefühl sowie Geschick im Handeln der Beteiligten kommt. In Philosophie wie Kunst oder in Wissenschaft, Politik oder Religion wird immer dann Schöpferisches in die Welt treten, wenn es gelingt, dass im Umgang mit fließenden Geschehnissen ein analytischer Geist und ein aufrichtiges Gefühl zusammenfinden und zum freiheitlichen, gemeinschaftlichen und gelingenden Tun verschmelzen.

 

15. Januar 2023

 

Literaturhinweis:

Pirmin Stekeler-Weithofer und Wolfgang Neuser (Herausgeber):

Die Idee der Natur. Analyse, Ästhetik und Psychologie in Hegels Naturphilosophie. Königshausen & Neumann, Würzburg 2022. 478 Seiten.

Dank:

Für die Erlaubnis, das Cover des Buches über Die Idee der Natur zu verwenden, dankt der Autor Herrn Daniel Seeger, Geschäftsführer des Verlages Königshausen & Neumann GmbH.

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